Alles muss immer gut vorbereitet sein. Bevor Sebastian Urbanski 2017 im Bundestag zum Holocaust-Gedenken auftrat, um einen Brief des Nazi-Opfers Ernst Putzki an dessen Mutter vorzutragen, hatte er sich genauso akribisch eingelesen wie vor einer Theaterprobe. Er übte zu Hause, im Theater Ramba Zamba in Berlin, wo er arbeitet, und im "Blumenfisch" in Weißensee. Als er ans Rednerpult trat, setzte er seine Lesebrille auf, trank einen Schluck Wasser, dann las er, mit klarer Stimme, Sätze wie diesen: "Man beerdigt die hautüberzogenen Knochen ohne Sarg", und erzählte vom "stinkenden Birnenmus", auf das sich die verhungernden Menschen 1943 in der "Heilanstalt für Behinderte" Weilmünster stürzten, um zu überleben.
Mit diesem Auftritt wurde Urbanski zum ersten Menschen mit Downsyndrom, der im Bundestag sprach. Er spielt im Theater und im Film, arbeitet als Synchronsprecher, hat ein Buch geschrieben. Urbanski ist ein Star. Und so einen wie ihn soll es in Zukunft nicht mehr geben? Das jedenfalls steht zu befürchten, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss am Donnerstag über die Aufnahme eines vorgeburtlichen Bluttests auf Downsyndrom in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen entscheidet. Und deswegen hat Urbanski gemeinsam mit anderen unter dem Motto "Inklusion statt Selektion" am Sonntag auf dem Berliner Breitscheidplatz demonstriert.
Bei der Protestveranstaltung traf er auch Natalie Dedreux, eine Journalistin mit Downsyndrom, die Urbanski gut kennt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte die beiden im April ins Schloss Bellevue eingeladen, auch um über diesen Bluttest zu sprechen. "Wenn die Frauen diesen Test schon machen", sagt Urbanski, "dann sollen sie keine Angst haben. Ich will ihnen Mut zusprechen, dass sie das Kind trotzdem kriegen." Eine Gesellschaft, die von Vielfalt rede, müsse diese auch zulassen, sagt Urbanski.
Mit dieser Haltung ist Urbanski, 41, Teil einer neuen Bewegung von Menschen mit Behinderung, die für sich selbst sprechen, ihre Rechte ausschöpfen, wählen gehen, alleine oder in einer WG wohnen, mit Freund oder Freundin zusammenziehen oder heiraten wollen. Leben wie alle anderen eben. Will sich Urbanski über Politik informieren, schaut er in sein iPad. "Ich mach mich schlau", sagt er. Bei der Bundesvereinigung Lebenshilfe sitzt er im Vorstand. Zuständig ist er für den Bereich Wohnen. Er will, dass Menschen mit Behinderung bezahlbaren Wohnraum bekommen. "Damit mehr barrierefreie WGs und Wohnheime gebaut werden", sagt er. Selbst lebt er im Moment wieder bei seinen Eltern, nach zwei Jahren glückloser WG-Erfahrung. Bald will er aber wieder selbständig werden. Er will, dass "andere sehen, was ich mache, damit sie sich ein Herz fassen" - und sich trauen, auch selbst für ihre Ziele zu kämpfen.
Dass er es einmal zu einem Vorbild für Menschen mit geistiger Behinderung bringen würde, war ihm nicht in die Wiege gelegt. 1978 in Ostberlin geboren, galt er als "unbeschulbar" und kam in die "Hilfsschule". Seine Mutter Bettina Urbanski, lange Jahre Journalistin bei der Berliner Zeitung, sieht diese Schule heute als großes Glück, denn ihr Sohn wurde in einer sehr kleinen Klasse von guten Lehrern unterrichtet. Und er hatte auch Glück mit seinen Eltern. Die sprachen mit ihm über Kultur, Literatur, Musik, Politik. "Mein Vati hatte ein Puppentheater gebaut aus blau-rotem Holz", erinnert sich Urbanski. "Das war die Geburtsstunde fürs Theater." Mit seiner Mutter schrieb er das Buch "Am liebsten bin ich Hamlet. Mit dem Downsyndrom mitten im Leben". Urbanski schwärmt von Shakespeares Hamlet. Die Rolle sei "so komplex wie ein ganzes Leben".
Aber auch seine Rolle als Regisseur in "Der nackte Wahnsinn" im Theater Ramba Zamba steht ihm gut. Die taz schrieb, Urbanski sei darin "nicht zu bremsen".