Süddeutsche Zeitung

Profil:Sandra Richter

Die neue Direktorin des Marbacher Literaturarchivs will viel - am besten alles auf einmal.

Von Karin Janker

Wie gewaltig die Aufgaben sind, die auf Sandra Richter zukommen, lässt sich am deutlichsten an dem ablesen, was als größter Coup ihres Amtsvorgängers gilt. Richter, die an diesem Donnerstag als neue Direktorin des Deutschen Literaturarchivs Marbach eingeführt wird, folgt Ulrich Raulff; zu dessen Erfolgen gehört der Kauf des Siegfried-Unseld-Archivs, eines der bedeutenden Schätze des 20. Jahrhunderts auf Papier. Es enthält unter anderem unzählige Briefe, etwa jene, die Unseld mit Thomas Bernhard austauschte und die zu den atemraubendsten Lektüren der Nachkriegsliteratur gehören.

Das Bewahren, Erforschen und Bergen solcher Schätze wird nun auch Sandra Richters Aufgabe an der Spitze des Marbacher Archivs sein. Aber nicht nur, denn Gegenwartsliteratur, für die Marbach ausdrücklich auch zuständig ist, findet längst nicht mehr nur auf Papier statt. Literatur ist digital geworden, und ins Literaturarchiv gehören heute auch Bilder, Audioaufnahmen, Festplatten, E-Mails, Blogs. Auch Unseld und Bernhard würden sich heute vermutlich SMS schicken. Und gälte es nicht, auch diese zu bewahren?

Die gewaltigen medialen Umwälzungen in den vergangenen 30 Jahren zeigen die Notwendigkeit für einen Generationenwechsel an, den Richter nun auf der Marbacher Schillerhöhe vollziehen soll. Bislang lehrte die 45-Jährige Neuere Deutsche Literatur in Stuttgart, wohin sie 2008 als damals jüngste Professorin berufen wurde. Seither trat sie als eine der wenigen Professorinnen ihres Fachs immer wieder öffentlich auf. In Denis Schecks Literatursendung "Lesenswert" etwa beantwortete sie Fragen zu ihren Lieblingsbüchern (Grimmelshausens "Simplicissimus"), aber auch die, ob sie Atheistin ("Ja") und Feministin sei ("Auch").

Die "Buddenbrooks" waren ihr literarisches Erweckungserlebnis

Richter stammt aus einem Dorf bei Kassel, ihre Mutter war Zigarrenmacherin, ihr Vater Schreiner. Die "Buddenbrooks" waren ihr literarisches Erweckungserlebnis. Es folgten ein Studium der Politikwissenschaft, Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte in Hamburg, die Promotion in Gießen und, mit gerade einmal 29 Jahren, die Habilitation über Poetiken von Novalis bis Rilke. Richter hat in London, Paris, Harvard, Peking geforscht und war Mitglied im Wissenschaftsrat der Bundesregierung. In Marbach arbeitete sie seit 2008 in mehreren Gremien des Literaturarchivs. Dass sie die Arbeit ihres Vorgängers schätzt, betont sie immer wieder.

Unter Raulff eröffnete das Literaturmuseum der Moderne, das seitdem innovative Ausstellungen entwickelt und zur Öffnung der Bücherburg beigetragen hat. Er befreite die Bilder aus den Kellern des Archivs; Richter will die Töne hinzuholen und die Literatur in Dialog mit anderen Medien bringen. Ihr erstes großes Projekt ist eine Ausstellung über das Kabarett. Danach soll es "dialogisch" weitergehen: Sie hoffe auf Kooperationen mit Berliner Kulturinstitutionen wie dem Humboldt-Forum. Denn zum Kolonialismus habe auch die deutsche Literatur einiges zu sagen. Richter will viel und am besten alles auf einmal: Digitalisierung, Öffnung, Globalität. Ob sie Marbach damit überfordert? Viele scheinen zu erwarten, dass die erste Frau an der Spitze des Literaturarchivs seit dessen Gründung 1955 dort geradezu wundersame Kräfte freisetzt. Der Schriftsteller Ilija Trojanow etwa schrieb in der FAZ, er hoffe, dass in Marbach unter Richter "die Schubladen des dortigen Archivs aufspringen werden, damit sich Gleiches zu Fremdem gesellen kann".

Richter vertritt ein erweitertes Verständnis von Literatur, das Computerspiele einschließt, weil auch sie Geschichten erzählen. Der Generationenunterschied zwischen ihr und ihrem Vorgänger wird womöglich wiederum in einem Vergleich deutlich: In einem Radiointerview sagte Raulff jüngst, das Internet speise sich aus Text, es sei ein "Verbraucher von Texten, also von Literatur". Sandra Richter hingegen versteht das Internet als Produzent von Texten: Für sie habe auch ein Algorithmus etwas Poetisches.

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SZ vom 14.02.2019
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