Profil:Plácido Domingo

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Sänger, der mit Corona und "Me Too" kämpft.

Von Reinhard J.Brembeck

Er singt und singt und singt. Nichts und niemand kann den Supermega-Opernstar Plácido Domingo daran hindern. Schon gleich gar nicht sein für einen Sänger biblisches Alter, in dem die meisten seiner Kollegen längst nur noch Privatiers sind. In fünf Monaten wird der gebürtige Madrilene 80 Jahre alt. Schon seit etlichen Jahren schafft er nicht mehr die großen Tenorpartien, mit denen er in den Siebzigerjahren berühmt wurde. Er hat sich wie zu Beginn seiner Karriere aufs tiefere und nicht so kraftzehrende Baritonfach verlegt.

Auch die derzeit grassierende Seuche, an der Domingo im März erkrankte, hat ihn nicht bremsen können. Genauso wenig wie die Vorwürfe wegen sexueller Belästigung, die zwanzig Frauen vor Jahresfrist gegen ihn erhoben haben, und die in Untersuchungen des Opernhauses von Los Angeles und des US-Verbandes der Musikkünstler als glaubwürdig eingestuft wurden. Daraufhin trat der Workaholic von seinem Intendantenposten in Los Angeles zurück, zudem entschuldigte er sich bei den klagenden Frauen, was er jetzt kurioserweise nicht als Schuldeingeständnis verstanden wissen will.

Die Reaktionen des Klassikmarktes auf die Vorwürfe fielen unterschiedlich aus. In den USA und in Spanien erhielt Domingo seither keine Engagements mehr. Gerade aber ist er bei Neapel aufgetreten, er singt an diesem Freitag in der Arena di Verona, dann übernimmt er in Wien die Titelrolle in Giuseppe Verdis "Simon Boccanegra", im Oktober steht er als Verdis Nabucco in Florenz auf der Bühne. Das Publikum wird ihn begeistert empfangen, Proteste im Auditorium sind kaum zu befürchten. Denn Domingo war in den vergangenen 50 Jahren der beherrschende Verdi-Sänger. Er hat über 100 Rollen und damit mehr als seine Konkurrenten José Carreras und Luciano Pavarotti gesungen, mit denen er das durch Fußballarenen tourende Massenspektakel der "Drei Tenöre" aufzog.

Domingo ist ein leidenschaftlicher und gut aussehender Sänger mit einer großen und dunklen Stimme, der kaum jemand widerstehen kann - auch wenn Domingo nie über das Belcanto-Raffinement und die Wendigkeit des legendären Carlo Bergonzi oder die flirrende Erotik Pavarottis verfügte. Zudem singt Domingo, das ist Teil seines Erfolgs, all seine Rollen nach bewährtem Schema: direkt, unverkopft, kraftvoll, siegessicher.

Deshalb garantiert Domingo nach wie vor volle Häuser und Kassen, und das Publikum liegt ihm zu Füßen, obwohl Glanz und Kraft seiner Stimme nachgelassen haben. Deshalb stecken jetzt viele Impresarios in einem Dilemma. Sie müssen sich entscheiden, ob sie Domingo trotz der Vorwürfe verpflichten. Dabei sind wohl nicht nur moralische Überlegungen ausschlaggebend. Viele Häuser und Institutionen sind unterfinanziert, sie sind auf die Abendkasse angewiesen, gerade jetzt in Seuchenzeiten, in denen kein Saal voll besetzt werden darf. Und Domingo garantiert wie sonst nur noch Anna Netrebko und Jonas Kaufmann volle Häuser.

Domingo-Auftritte in den USA sind auch deshalb unmöglich, weil dort moralische Kriterien sehr viel stärker das öffentliche Leben bestimmen als in den meisten europäischen Ländern. Es wird in Europa nur wenige Menschen geben, die sich die Bilder Caravaggios nicht anschauen, weil der Künstler ein Mörder ist. So werden sich auch etliche Musikfreunde für den Besuch eines Domingo-Recitals entscheiden, trotz der Vorwürfe. Wer zu Domingo geht, weiß um die massiven Vorwürfe wie auch um die Singularität dieses Künstlers. Das lässt sich nicht gegeneinander verrechnen oder abwägen. Beides gehört untrennbar zur Person Domingos. Nur eines dürfte endgültig unmöglich sein: die früher gern geäußerte Ansicht, dass ein großer Künstler menschlich kein Schuft oder gar Verbrecher sein kann. Es geht eben manchmal beides ganz leicht zusammen.

© SZ vom 27.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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