Süddeutsche Zeitung

Profil:Oscar Temaru

Polynesiens Kämpfer für Unabhängigkeit verklagt Frankreich in Den Haag.

Von Jean-Marie Magro

Kaum jemand kann der stolzen französischen Nation den Spiegel so wirksam vorhalten wie der Polynesier Oscar Temaru. Nach Jahren, in denen es still um den Unabhängigkeitsaktivisten war, verklagt Temaru jetzt Frankreich vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es geht um die Atomwaffentests auf dem Mururoa- und dem Fangataufa-Atoll. Zwischen 1966 und 1996 hatte Frankreich dort 193 solcher Tests gemacht. Viele Menschen in der Region erkrankten später an Krebs. Seit 2010 zahlt Paris zwar Entschädigungen, aber Temaru reicht das nicht. "Anders als Frankreich behauptet, haben wir nicht akzeptiert, dass die Tests bei uns vorgenommen werden. Sie wurden uns mit der Drohung der Einrichtung einer Militärregierung aufgedrängt", sagt er. Mit seiner Anklage verfolgt Temaru sein Lebensthema, den Kampf gegen das Kolonialsystem.

Oscar Temaru wurde 1944 in Faa'a geboren, einer Gemeinde im Nordwesten Tahitis in Französisch-Polynesien. Die ehemalige Kolonie gehört bis heute zum Staatsgebiet Frankreichs. Temaru wuchs in armen Verhältnissen auf, ging zur Marine und wurde mit 17 Jahren für den Algerienkrieg eingezogen. Für den jungen Soldaten änderte der Krieg alles, seine Sicht auf die Welt. Warum sollte ausgerechnet er die Algerier und ihren Wunsch nach Unabhängigkeit unterwerfen? Er stammte doch selbst von einer Insel, die 16 000 Kilometer Luftlinie entfernt von Paris liegt. Damals sei ihm klar geworden, dass die Algerier ihm näher standen als die Franzosen, für die er kämpfen sollte und die seine Insel nur durch das Recht des Stärkeren beherrschten.

Temaru wurde Politiker, gründete eine Partei und wurde Bürgermeister seiner Geburtsstadt. Als erste Amtshandlung ließ er die französische Nationalflagge und eine Büste der Marianne aus dem Rathaus entfernen. Kommt Temaru einmal in Fahrt, ist er kaum zu bremsen. Bei seiner ersten Rede im polynesischen Parlament sprach er, damals ein unbekannter Oppositionspolitiker, mehr als zwei Stunden lang. Der Parlamentspräsident versuchte, ihn zum Schweigen zu bringen: Er schaltete erst das Mikrofon aus, später drehte er ihm den Strom ganz ab. Temaru kümmerte das nicht, er schwieg nicht.

Zum politischen Durchbruch verhalf ihm ausgerechnet sein Erzfeind: 1995 erklärte der neu gewählte französische Präsident Jacques Chirac, dass Frankreich seine Atomwaffentests im Südpazifik wiederaufnehmen werde. Tausende Polynesier demonstrierten dagegen, Temaru führte die Proteste an. Vor allem die Jugend scharte sich hinter dem standhaften Politiker, ihrem "Oscar", wie er bald nur noch genannt wurde.

Zehn Jahre später wurde er zum Präsidenten Französisch-Polynesiens gewählt. Doch nach vier Monaten warf ihn ein Misstrauensantrag aus dem Amt. Temaru begann einen Hungerstreik, bis Chirac das polynesische Parlament auflöste und Neuwahlen einberief. Viermal wurde Temaru in den folgenden acht Jahren zum Präsidenten gewählt, es waren politisch instabile Zeiten in Polynesien. Sein Kampf für die Unabhängigkeit wurde zu einer Politik der kleinen Schritte. Heute besitzt das Territorium ein hohes Maß an Autonomie, Frankreich mischt sich nur noch in Bereiche wie Außenpolitik und Verteidigung ein. Temaru aber dürfte nur eine Loslösung von Frankreich zufriedenstellen.

Den Zeitpunkt seiner Klage in Den Haag hat er geschickt terminiert: Anfang November stimmen die Menschen in Neukaledonien im Südpazifik über eine Unabhängigkeit von Frankreich ab. Zwar geht es diesmal nicht um Temarus Heimat "Tahiti Nui", doch für ihn sind die Kanaks, die Indigenen Neukaledoniens, Waffenbrüder, weil auch ihnen "Würde und Freiheit geraubt" worden seien. Einen neuen Feind hat Temaru in Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron gefunden. Dessen Umgang mit ehemaligen Kolonien sei hochnäsig.

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Quelle:
SZ vom 12.10.2018
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