Süddeutsche Zeitung

Profil:Michel Barnier

Der Brexit-Verhandler ist stets auch Gentleman.

Von MATTHIAS KOLB

Der eigentliche Held redet zum Schluss. Michel Barnier ergreift als Letzter das Wort bei der Pressekonferenz, auf der die Annahme des überarbeiteten Brexit-Deals durch die EU-27 erläutert wird, und er redet zunächst über andere. Er dankt den Männern, die neben ihm stehen: Jean-Claude Juncker und Donald Tusk, die scheidenden Präsidenten von EU-Kommission und Europäischem Rat, sowie Irlands Premier Leo Varadkar hätten ihn als Chefunterhändler sehr gut unterstützt. Und der Franzose dankt namentlich jenen Männern und Frauen (an den entscheidenden Stellen saßen Expertinnen) aus der "Article 50 Taskforce", die seit Sommer 2016 so viele Rechtstexte zum Brexit schrieben: Sie seien "außergewöhnlich kompetent und immer verfügbar".

Diese Worte beschreiben auch den 68-Jährigen, dem viele in Brüssel gern ein Denkmal bauen würden für seine enorme Leistung. Dank seiner jahrzehntelangen Erfahrung als Berufspolitiker hat er es geschafft, auch mit Boris Johnson einen Deal zu finden. "Immer verfügbar" hieß für Barnier nicht nur, in die Hauptstädte zu reisen und dort zu informieren, sondern auch sich ständig mit den Brexit-Experten des Europaparlaments auszutauschen und Kontakte zu Gewerkschaften und Unternehmern zu pflegen. Der dreifache Vater lobt die "Mannschaftsleistung", aber nur wenig andere besitzen die nötige Mischung aus Detailkenntnis, Fingerspitzengefühl und Selbstdisziplin.

Wo immer er auftaucht, versuchen ihn Reporter zu Prognosen oder Provokationen zu bewegen. Der asketisch wirkende Barnier bleibt stets in seiner Rolle als Gentleman und spottet nicht über die turbulente britische Innenpolitik. "Ich bedauere den Brexit zutiefst, aber ich respektiere die Entscheidung", sagt er erneut in der Pressekonferenz und spricht von Bewunderung für das Königreich: "Wir vergessen nie die britische Solidarität in unseren düstersten Stunden." Er sage dies als "Gaullist", also als französischer Christdemokrat, dessen Parteigründer Charles de Gaulle im Zweiten Weltkrieg in London Schutz fand. Bei den Gaullisten machte der begeisterte Bergsteiger aus Savoyen früh Karriere. Er wurde mit 27 Abgeordneter, war zur selben Zeit wie Angela Merkel Umweltminister und als EU-Kommissar sowohl für Regionalpolitik als auch für den Binnenmarkt zuständig. Damals, 2010, nannte ihn der Daily Telegraph "den gefährlichsten Mann Europas", weil er Auflagen für die Finanzmärkte forderte.

Als Brexit-Unterhändler verlor Barnier nie aus den Augen, welch gravierende Folgen der EU-Austritt Großbritanniens für die irische Insel haben wird: "Was wirklich zählt, sind die Menschen und der Frieden." Als früherer Europaabgeordneter kennt er die Befindlichkeiten der kleineren Länder, und deren Politiker sind beeindruckt davon, dass ein Franzose für die Interessen der fünf Millionen Iren kämpft. Die Botschaft "Wenn es hart auf hart kommt, hält die EU zusammen" ist eine der wenigen positiven Begleiterscheinungen des Brexit. Barnier fordert von den Regierungschefs, diese Geschlossenheit für eine positive Agenda zu nutzen, also etwa im Umgang mit China oder beim Kampf gegen die Erderhitzung. Diese Themen muss die neue EU-Kommission angehen und in Brüssel dürften sich jene bestätigt fühlen, die Barnier als Idealbesetzung für deren Vorsitz angesehen hatten. Dass er vor der Europawahl eine Schatten-Werbekampagne für sich führte, passt nicht zu seinem Gentleman-Image, ist aber schon wieder vergessen.

Egal wie das britische Unterhaus über den Deal an diesem Samstag abstimmt, Barnier wird sich weiter um den Brexit kümmern. Für einige Zeit soll er die Gespräche mit London über die künftigen Beziehungen koordinieren. Dass es ihm an Lust und Energie mangeln sollte, ist nicht zu erwarten. Nach einer abendlichen Sitzung mit Parlamentariern verriet ein Teilnehmer: "Barnier war deutlich frischer als sein Team" - und dessen Mitglieder sind viel jünger.

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Quelle:
SZ vom 19.10.2019
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