Süddeutsche Zeitung

Profil:Mahsheed Mahjor

Kämpft mit Lesezirkeln für ein friedliches Afghanistan.

Von Anna Reuß

Jeden Freitag entfliehen die jungen Teilnehmer eines Lesezirkels in Kabul für zwei Stunden dem Alltag. Weil viele Kinder nicht selbst lesen können, veranstalten die 25 Jahre alte Mahsheed Mahjor und ihre ehrenamtlichen Mitstreiter, allesamt junge Frauen, Vorlesestunden. Die Bücher behandeln Themen wie Privatsphäre oder Umwelt. Oder was es bedeutet, ein Junge oder ein Mädchen zu sein. Oder, dass der Islam nicht die einzige Religion auf der Welt ist. "Die Kinder sollen lernen, tolerant zu sein, doch es ist manchmal schwer, durch diese Themen zu navigieren", sagt Mahjor. "Ich versuche die Kinder zum Nachdenken und Fragenstellen anzuregen, aber nicht zu drängen."

Mit einem Stipendium konnte sie in den USA die Highschool besuchen und dann studieren. Sie lernte dort die Idee des Lesezirkels kennen: "Ich dachte mir, in Afghanistan würde das viel dringender gebraucht." Ihre Familie habe sie stets zum Lesen ermutigt, sagt sie. Die meisten jungen Frauen in ihrer Heimat haben dieses Privileg nicht. Gerade für Mädchen gebe es kaum Möglichkeiten, offen und frei zu sprechen.

Dem "Global Peace Index" zufolge ist Afghanistan das gefährlichste Land der Welt, nachdem es Syrien vom traurigen ersten Rang verdrängt hat. Eine ganze Generation kennt nichts anderes als den Krieg - Mahsheed Mahjor wurde mitten hineingeboren. Afghanistan hat zudem die niedrigste Alphabetisierungsrate der Welt. In zwei Provinzen im Süden des Landes können nach Angaben der Vereinten Nationen gerade einmal 1,6 Prozent der Frauen lesen; in der Hauptstadt Kabul, wo die Rate am höchsten ist, sind es auch nur 35 Prozent.

Mahjor spricht unverblümt die Probleme in ihrem Land an: Korruption, die fragile Staatlichkeit und vor allem das Bildungssystem, das "nicht funktioniert". Eigentlich wisse sie gar nicht, wo man anfangen sollte, um die Situation zu verbessern. "Ich verlasse morgens das Haus und weiß nicht, ob ich abends wieder zurückkomme." Nach der Arbeit noch Freunde zu treffen stelle sie vor die Frage, wo wohl die nächste Bombe explodieren wird. Der Krieg und die Gewalt haben das Land um Jahrzehnte zurückgeworfen. "Die Narben sind heute noch sichtbar", sagt sie. Mädchenschulen wurden zerstört und vielerorts nicht wieder aufgebaut. "Die Jungen sehen, dass ihre Schwestern nicht zur Schule gehen. Wenn sie einmal selbst Väter sind, glauben sie, das sei normal."

In der afghanischen Gesellschaft sei es ein Tabu, Männlichkeit zu hinterfragen, sagt Mahjor. Der Bücherzirkel ist für viele die einzige Gelegenheit im Alltag, mit Mädchen oder mit Jungen in Kontakt zu kommen. Das sei jedoch wichtig: Nur so könne das Problem der sexuellen Belästigung gelöst werden. "Diese Mystifizierung des anderen Geschlechts in unserer Gesellschaft ist gefährlich", sagt Mahjor. Es geht ihr deshalb darum, dass die Kinder traditionelle Rollen hinterfragen. In einem der Bücher geht es zum Beispiel um zwei Schwestern, die die Hausarbeit ganz alleine machen müssen - der Vater hilft zu Hause nicht. In der Diskussion will sie von den jungen Zuhörern anschließend wissen, was sie davon halten.

Anfangs hatten die Eltern Vorbehalte, ihre Kinder zu bringen, weil sie glaubten, im Bücherzirkel werde das Christentum propagiert. Doch mittlerweile sind viele Vorbehalte ausgeräumt. Erst vor Kurzem kam ein Vater auf sie zu und sagte, er werde auch andere Väter ermutigen. Ein großer Erfolg, sagt Mahjor. Dass im ganzen Land Lesezirkel gegründet werden, sei typisch für ihre Generation. Es sind diejenigen, die nach dem 11. September 2001 sozialisiert wurden: Junge Menschen, die die Vorteile der Globalisierung kennenlernen - die durch soziale Medien ein Fenster in die Welt haben. Und so ist die junge Frau, die selbst in ihrer Heimat nur Krieg erlebt hat, optimistisch. "Afghanistan hatte immer eine literarische Tradition. Mit dem Lesen beginnt auch der Friedensprozess", sagt Mahjor.

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Quelle:
SZ vom 18.07.2019
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