Profil:Lutz von Selle

Lutz von Selle, Generalstaatsanwalt, Hamburg; Lutz von Selle

Hamburger Generalstaatsanwalt, der die Justiz vor die Zerreißprobe stellt: Lutz von Selle.

(Foto: Ullstein)

Hamburger Generalstaatsanwalt, stellt Justiz vor Zerreißprobe.

Von Thomas Hahn

Über seine Beliebtheit macht sich der Hamburger Generalstaatsanwalt Lutz von Selle keine Illusionen. Die ist nicht groß, was aus seiner Sicht in der Natur seines Amtes liegt. Selle hat der Staatsanwaltschaft auf die Finger zu schauen und sie bei Bedarf zu korrigieren. Er sagt: "Jeder, der eine Dienstaufsicht ausübt, läuft Gefahr, dass seine Entscheidung von denjenigen angezweifelt wird, die er beaufsichtigt." Trotzdem ist jener Widerstand, auf den er derzeit trifft, nicht alltäglich. Selle will eine Anklage gegen den Linke-Fraktionschef Gregor Gysi wegen des Verdachts auf falsche Versicherung an Eides statt, welche Gysi zu seiner möglichen Stasi-Mitarbeiterschaft abgegeben haben soll. Die Staatsanwaltschaft will dagegen keine Anklage. Jetzt brütet Justizsenator Till Steffen darüber, wem er Recht geben soll. Hamburgs Justiz steht vor der Zerreißprobe, und Selle nennt den Vorgang "ungewöhnlich".

Ein solcher Zwist ist einmalig in der deutschen Rechtsgeschichte, und es passt ins Bild, dass Lutz von Selle, 63, daran beteiligt ist. Wenige Hamburger Behördenmenschen kommen so schlecht weg wie er. Die örtliche Presse beschreibt seine Rechtsauffassung als kleinlich, seinen Ton als herrisch, sein Urteil über Mitarbeiter als gnadenlos. Der erfahrene Strafverteidiger Uwe Maeffert vermisst in Hamburgs Justiz unter Selle eine Rechtsauslegung, die einer Entwicklung hin zu liberaleren Urteilen Rechnung trägt; zum Beispiel bei geringen Vergehen gegen das Betäubungsmittelgesetz. Und das Verhältnis der Staatsanwaltschaft selbst zu ihrem Aufseher ist nicht nur wegen des Falles Gysi unterkühlt. Manche reden von "Hass".

Andere, die mit Selle beruflich zu tun haben, loben ihn als fleißigen Justiz-Fachmann, sie nennen ihn konsequent statt pedantisch, geradlinig statt stur, ruhig statt spröde. Sie erkennen in ihm einen Vertreter des Rechtsstaats, der seine Aufgabe so genau nimmt, dass er eben manchmal nervt. Zum Beispiel Pressevertreter, die gerne wüssten, wann die Polizei wo welche Razzia plant. Solche Indiskretionen hat Selle hingebungsvoll bekämpft, unter anderem mit dem Verweis auf die Persönlichkeitsrechte jener, die von den Razzien betroffen sind. Er selbst ist ein begabter Geheimnishüter. Kein Wort über die Sache Gysi. "Diskretion darf kein Steckenpferd sein", sagt er, "die muss so sein."

Lutz von Selle kann angeblich ein Drache sein. Im Interview fragt man sich, wo dieser Drache steckt. Selle ist ein freundlicher, etwas behäbiger Mann, der selbst weiß, dass seine Disziplin ihn etwas freudlos erscheinen lässt. Er ist jeden Morgen um halb sieben im Büro. Er liest viele Akten. Er hat hohe Ansprüche. Und er ringt um so etwas wie Klarheit in den Ermessensspielräumen des Paragrafen-Dschungels. "Ich frage nicht, würde ich es genauso machen wie der Staatsanwalt. Ich frage: Ist es vertretbar", sagt von Selle. Sein Prinzip dabei scheint allerdings auch klar zu sein: Im Zweifel für die harte Linie - und damit gegen den Verdächtigen.

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