Profil:Lucetta Scaraffia

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(Foto: Foto: Gregorio Borgia/DPA)

Die Journalistin und Historikerin probt im Vatikan den Aufstand.

Von Matthias Drobinski

Als sie zwei Jahre alt war, mochte Lucia Scaraffia nicht mehr Lucia heißen; alle sollten sie von nun an Lucetta nennen. Sie setzte sich durch. Jetzt ist Lucetta Scaraffia 70 Jahre alt, und ihr Wille ist so eisern wie vor 68 Jahren: Gerade ist sie als Chefredakteurin der Beilage Donne Chiesa Mondo (Frauen, Kirche, Welt) zurückgetreten, gemeinsam mit allen anderen Redakteurinnen der monatlichen Frauenbeilage der offiziellen Vatikan-Zeitschrift Osservatore Romano. Sie hat in ihrem Blatt den weltweiten sexuellen Missbrauch von Nonnen zum Thema gemacht. Nun wirft sie den Kirchenmännern vor, dass die sie ans Gängelband nehmen wollten, "dass man zu den alten, vertrockneten Sitten zurückkehrt, unter der direkten Kontrolle von Männern Frauen auszuwählen, die als vertrauenswürdig gelten", wie sie in einem zornigen Brief an Papst Franziskus schreibt. Es ist ein Weiberaufstand, wie ihn der Vatikan noch nicht gesehen hat, angeführt von einer Frau, in der sich Frömmigkeit und Rebellion in einer ziemlich katholischen Weise vereinen.

Die Eltern jedenfalls wollten Lucetta, die Eigensinnige, sehr katholisch erzogen sehen; die gläubige Mutter setzte sich gegen den freimaurerischen Vater durch. Die Regeln auf dem Lyzeum in Mailand waren streng, Jeans wie Kino war tabu, die Angst vor Sünde und Sex vor der Ehe allgegenwärtig. Das Mädchen fürchtete, Nonne werden zu müssen. Sie betete zehn Avemarias am Tag, dass der Herr sie verschonen und außerdem ihre kommunistische Tante bekehren möge.

Das erste Anliegen erhörte der Herr, das zweite nicht. Im Gegenteil: Als Studentin brach Lucetta Scaraffia mit der Kirche und wandte sich den 68ern zu; die erste Demonstration absolvierte sie im biederen Kostüm, was ihr die Verhaftung ersparte. Sie wurde Feministin; das Mackertum der linken Männer regte sie so auf wie der Dreck, den sie überall hinterließen. Sie heiratete und trennte sich, bekam ledig eine Tochter, lebte mit dem Journalisten Ernesto Galli della Loggia zusammen. Beruflich wandte sie sich der Frauenforschung zu - und entdeckte die Heiligen. Sie schrieb, streng wissenschaftlich, versteht sich, über die Mystikerin Rita von Cascia, die als Mädchen zwangsverheiratet wurde, und über Teresa von Avila, die dem Papst widersprach.

Die Bekehrung kam an einem Sonntag Ende der 80er-Jahre. Im römischen Stadtteil Trastevere feierte die Basisgemeinde Sant'Egidio die Rückkehr einer restaurierten Marien-Ikone. Der byzantinische Gesang, die Liturgie, das alles ergriff sie so sehr, dass sie seitdem wieder "leidenschaftlich katholisch" fühlt, wie sie sagt. Sie wurde zur Protagonistin eines weltoffenen Katholizismus, stritt in Talkshows und Zeitungsbeiträgen für eine restriktive Bioethik. Ab 2012 übernahm sie neben ihrer Arbeit als Historikerin an der römischen Universität La Sapienza die Schriftleitung der Beilage Donne Chiesa Mondo. Konnte es eine bessere Wahl geben als die sprachmächtige bekehrte Intellektuelle?

Nur dass Scaraffia den Eigensinn nicht lassen kann. Sie sieht sich als "Feministin, die sich gegen ein feministisches Einheitsdenken verwehrt" - damit ist sie das Feindbild der innerkirchlichen Rechten. Die empören sich, wenn sie schreibt, dass sie zwar gegen Abtreibung sei, aber verstehe, dass ein Staat Schwangerschaftsabbrüche gesetzlich regeln müsse. Dass sie für ein Diakonat für Frauen eintritt, hat den Ärger vertieft. Über die Familiensynode 2015 schrieb sie: "Was mich bei diesen Kardinälen, Bischöfen und Priestern am meisten erstaunt hat, war ihre vollkommene Unkenntnis des Weiblichen, ihr unsensibler Umgang mit Frauen, die sie offenbar für minderwertig halten." Immerhin lasse man sie nun als eine Art Maskottchen gelten.

Andrea Monda, Chefredakteur des Osservatore Romano, schwört, dass Scaraffia alle Freiheiten gehabt habe. Aber vielleicht war das nicht genug: Sie wollte Veränderungen und nicht mehr Maskottchen sein.

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