Über Jair Bolsonaro hört und liest man oft, er sei der "Donald Trump Brasiliens". Das ist vielleicht ein bisschen gemein - gegenüber Trump. Außerdem ist es falsch. Zweifellos gibt es einige Parallelen zwischen dem US-Präsidenten und dem brasilianischen Präsidentschaftskandidaten. Beide wettern gegen Minderheiten und Journalisten, halten den weißen Mann für die Krone der Schöpfung, verbringen offenbar einen Großteil ihres Tages damit, Unsinn zu twittern und sind auch sonst eher unangenehme Zeitgenossen. Aber wenn das schon ausreichte, um ein neuer Trump zu sein, dann gäbe es weltweit ein paar Millionen Trumps.
Zumal sich Bolsonaro, 62, in einem entscheidenden Punkt radikal vom Politik-Anfänger in Washington unterscheidet: Er ist kein Anfänger, kein Quereinsteiger, kein Anti-Politiker. Er gehört zu den dienstältesten Abgeordneten seines Landes. 1988 wurde er erstmals in den Landtag von Rio de Janeiro gewählt, seit 1990 sitzt er im Parlament von Brasília. In dieser Zeit wechselte er neun Mal die Partei, aber seiner Grundeinstellung blieb er immer treu: Früher, in der Militärdiktatur, war auch nicht alles schlecht.
Die Folter zum Beispiel, die Bolsonaro für ein legitimes Mittel zur Verbrechensbekämpfung hält. Ein Polizist, der nicht töte, sei kein Polizist, findet er. Sein Votum für die Absetzung der ehemaligen Präsidentin Dilma Rousseff, die zu Diktaturzeiten gefoltert worden war, widmete er dem Folterknecht Carlos Brilhante Ustra. Ende der 90er-Jahre sagte er im Parlament, die Militärjunta habe leider vergessen, 30 000 korrupte Menschen zu erschießen, angefangen bei Fernando Henrique Cardoso, dem damaligen Staatschef.
Bolsonaro diente sich noch vor dem demokratischen Wandel 1985 als Fallschirmjäger in der Armee hoch und posiert bis heute gerne mit Kriegswaffen. Als Politiker ist er bekennend homophob, frauenfeindlich und rassistisch. Afrobrasilianer bezeichnete er als zu faul, um sich fortzupflanzen. Einer Abgeordneten sagte er, sie habe es nicht verdient, von ihm vergewaltigt zu werden. Als seine Tochter zur Welt kam, entschuldigte er sich für diesen "Schwächeanfall". Was seine vier Söhne betrifft, wäre es ihm lieber, "dass sie bei einem Autounfall sterben, als dass sie schwul werden". Sorgen muss er sich da keine machen, die Söhne sind ebenfalls Politiker und haben ähnliche Ansichten.
Fast drei Jahrzehnte lang hat den Abgeordneten Bolsonaro außerhalb seiner radikalen Stammklientel kaum einer ernst genommen. Neu ist, dass er mit seinen Tiraden plötzlich Gehör findet. In den Umfragen für die Präsidentschaftswahl im Oktober liegt er derzeit auf dem zweiten Platz, gleich hinter dem zu zwölf Jahren Haft verurteilten Luiz Inácio Lula da Silva.
Fast alle Analysten sind sich einig, dass er die Wahl nicht gewinnt. Schon gar nicht, falls Lula endgültig als Kandidat ausgeschlossen wird. Denn Bolsonaros Aufstieg fußt auf seiner Hasskampagne gegen den polarisierenden Ex-Präsidenten, "den Müll namens Lula", wie er sagt. Ohne dieses linke Feindbild wäre Bolsonaro wohl erledigt. Aber allein die Tatsache, dass über seine Chancen ernsthaft diskutiert wird, zeugt von der Legitimationskrise der größten Demokratie Südamerikas.
Bolsonaro wurde 1955 in einer Kleinstadt bei São Paulo geboren. Sein Vater, der ohne Berufsausbildung als Zahnarzt praktizierte, gab ihm den zweiten Vornamen Messias. Das passt zu seiner Selbstinszenierung: christlich, volksnah, hart, aber ehrlich, unbestechlich. Abgesehen von seinem erzkatholischen Eifer ist daran alles gelogen. Bolsonaro besitzt ein Dutzend Luxusimmobilien, die er mit seinen Diäten als Abgeordneter nie gekauft haben kann. Trotzdem schürt er die Wut auf korrupte Eliten. Bizarrerweise kommt er damit vor allem bei den reichsten und gebildetsten Brasilianern an. Bei den Eliten. Sie haben noch bis Oktober Zeit, um zu begreifen, dass jede Stimme für diesen rechten Messias eine Stimme gegen die Demokratie wäre.