Er hat fast schon alles gehabt in seinem fast noch jungen Dirigentenleben, der 35-jährige Venezolaner Gustavo Dudamel, der einst ein wenig irrlichterte, jetzt aber ein markanter Chefdirigent des Los Angeles Philharmonic Orchestra ist. Nur, es fehlte da noch etwas: zum Beispiel das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker. Dudamel dirigiert es am Sonntag zum ersten Mal - für die zweitausend Zuhörer im Goldenen Saal des Wiener Musik-vereins und die fünfzig Millionen per Fernsehen live zugeschalteten Musikfreunde des globalisierten Events.
Dudamel ist der jüngste Dirigent, den sich die Wiener Philharmoniker je zu dem Anlass ans Pult geholt haben. Seine Vorgänger am 1. Januar waren und sind Europas gerühmteste Kapellmeister. Abbado, Barenboim, Harnoncourt, Jansons, Karajan, Kleiber, Maazel, Mehta, Muti. Ist Dudamel ihr legitimer Erbe?
"El Sistema" nennt sich der Ursprungsmythos, dem Gustavo Dudamel entsprang. Zu diesem System gehörte nämlich das Projekt des staatlichen "Orquesta Sinfónica de la Juventud Venezolana Simón Bolívar", des Jugendorchesters also, das der geniale Pädagoge José Antonio Abreu 1975 aus der Taufe hob für die venezolanischen Jungen und Mädchen und deren musische Zukunft. Zum kostenlosen Musiklernen. Geboren wurde Dudamel 1981 in der Großstadt Barquisimeto im Nordwesten des Landes, als Sohn eines Posaunisten und einer Gesangslehrerin. Früh war er der Geige ergeben, schon mit 18 Jahren wurde er Chefdirigent dieses großartigen Jugendorchesters und errang weltweit Aufsehen. Ihre triumphale gemeinsame Europatournee im vergangenen Januar beglaubigte noch einmal die Haltbarkeit des Projekts, zumal angesichts dieses längst zum internationalen Stardirigenten aufgestiegenen Zöglings.
Früh wurde er am Pult als musikalische Sensation wahrgenommen und prompt von Dirigiergrößen wie Claudio Abbado, Daniel Barenboim und Simon Rattle beraten und gefördert. Wer ihn damals erlebte, erinnert sich an eine Art Derwisch, der mit seinen langen, temperamentvoll rudernden Armen und dem schlingernden Oberkörper die symphonischen Brocken von Beethoven bis Strawinsky, von Tschaikowsky bis Mahler so präzise wie heißblütig nachzeichnete; man könnte auch sagen: erregt durchpflügte. Vor wenigen Jahren dann bei den Salzburger Festspielen ein ganz anderes Bild: Gustavo Dudamel stand inzwischen ruhig, fest verankert am Pult und steuerte den Koloss von Mahlers Dritter Symphonie souverän, mit sicherem Schlag und in weit schwingenden Bögen durch alle Klippen eines zerklüfteten Ton- und Formgemäldes.
Der Sieg beim Gustav-Mahler-Dirigentenwettbewerb in Bamberg 2004 war der Start in die steile Phase seiner Karriere. Drei Jahre danach wurde er Chefdirigent der Göteborger Sinfoniker, schon 2009 Music Director beim Los Angeles Philharmonic. Mittlerweile stand er am Pult aller führenden Klangkörper in Amerika und Europa, natürlich der Wiener und der Berliner Philharmoniker; er dirigierte zum 80. Geburtstag von Papst Benedikt XVI. vor neun Jahren im Vatikan; er leitete im März 2013 das Simón-Bolívar-Jugendorchester beim Begräbnis von Venezuelas Präsident Hugo Chávez. Dass sich Dudamel dem venezolanischen Regime gegenüber stets betont loyal verhalten hat, trug ihm auch heftige Kritik ein, beispielsweise von der führenden Pianistin seines Heimatlandes, Gabriela Montero.
"Jetzt kann ich in Frieden sterben", mit diesen Worten hat Dudamel für sein Wiener Neujahrskonzert in einer Pressekonferenz beglückt geworben. Im Eifer hatte er wohl vergessen, dass er vorher noch ein paar andere Termine zugesagt hat. Mitte März wird er in der neuen Hamburger Elbphilharmonie gleich mehrere Konzerte dirigieren - und zwar das Jugendorchester mit allen neun Sinfonien von Beethoven.