Den Abgeordneten im britischen Unterhaus ist es verboten, zu klatschen, so steht es im sechzehnseitigen Handbuch zu Benimmregeln im Parlament. "Singing and chanting" ist laut Unterpunkt 37 eigentlich auch nicht erlaubt, aber die Sprecher des Unterhauses sind in dem Fall meist weniger streng. Das laute Jubeln gehört dazu in dieser engen Kammer, manchmal auch schon, bevor es losgeht, wie an diesem Mittwoch. Da war es unmittelbar vor den wöchentlichen Prime Minister's Questions besonders laut, jedes Mal, wenn ein Tory die Kammer betrat und sich zu den Sitzplätzen aufmachte, brachen sie auf den Bänken der Opposition in ein lang gezogenes Ooooh aus, wie Fußballfans, die etwas erwarten. An den beiden Mittwochen davor war schließlich jeweils ein Tory übergelaufen zu Labour, was physisch passiert, durch den Gang auf die andere Seite. Dieses Mal blieb alles so, wie es vorher war, und das heißt auch: Natalie Elphicke nahm erneut auf der Labour-Seite Platz.
Am Mittwoch vor zwei Wochen war es Dan Poulter, Abgeordneter vom moderaten Mitte-Flügel der Konservativen, der sich Labour anschloss, er begründete das mit dem Missmanagement des Gesundheitssystems durch die Tory-Regierung. Am Mittwoch vergangener Woche dann nahm plötzlich Natalie Elphicke auf den Labour-Bänken Platz, und was das bedeutet, zeigt sich auch daran, dass niemand vorher Bescheid wusste. Keir Starmer, der Labour-Chef, hatte offenbar nur zwei Personen über den Wechsel informiert, seine Büroleiterin und seinen Kampagnenchef.
Natalie Elphicke, 53, geboren als Natalie Ross in Welwyn Garden City in Hertfordshire, ist seit 2019 die Abgeordnete für Dover. Sie ist damit geografisch an der Front der Tory-Migrationspolitik: In Dover kommen immer wieder Flüchtlinge mit dem Schlauchboot an. Sunaks Slogan "Stop the Boats" meint genau diese Flüchtlinge, und Elphicke hat in den vergangenen Jahren mehr als einmal klargemacht, was sie von Flüchtlingen im Ärmelkanal hält. Es wäre weniger überraschend gewesen, wenn sie zu Reform UK übergelaufen wäre, der hart rechten Partei weit draußen, am Rand des politischen Spektrums.
Ihr Mann wurde wegen sexueller Gewalt verurteilt
Wie "ein Schlag in die Magengrube" habe sich der Moment angefühlt, als Elphicke über den Unterhaus-Flur schritt, sagte die Labour-Abgeordnete Jess Phillips, stellvertretend für die Gesamtstimmung, die seit einer Woche in der Partei vorherrscht. Bislang aber bleibt die Partei weitgehend ruhig, wohl auch deshalb, weil niemand einen Wahlsieg durch einen offenen Streit mit Starmer riskieren will. Das Problem ist dabei nicht nur Elphickes politische Position, sondern vor allem ihre persönliche Geschichte.
Sie wurde vor viereinhalb Jahren deshalb zur Abgeordneten gewählt, weil ihr damaliger Mann Charlie Elphicke wegen Vorwürfe sexueller Nötigung suspendiert worden war und die Partei für seine Nachfolge nur sie nominierte. Charlie Ephicke wurde 2020 in drei Anklagepunkten sexueller Gewalt zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, Natalie Elphicke sagte damals, er sei eben "attraktiv", und Frauen fühlten sich "von ihm angezogen". Dazu soll sie vor dem Prozess mehrere Abgeordnete gebeten haben, schriftlich zu seinen Gunsten an die Richterin zu appellieren.
Inzwischen hat die Partei gemeinsam mit Elphicke ein Statement veröffentlicht, in dem sie sich für ihr Verhalten damals entschuldigt. Aus dem Umfeld von Keir Starmer wiederum ist zu hören, dass Labour es nicht hätte ablehnen können, sie zu begrüßen. Elphicke hatte schon vor längerer Zeit angekündigt, bei den nächsten Wahlen nicht mehr antreten zu wollen, und sie begründete ihren krassen Schritt nun damit, dass nur Labour "für sichere Grenzen" sorgen könne. Der Schaden für Sunak, der Migrationspolitik zum Thema Nummer eins im Wahlkampf machen will, könnte damit kaum größer sein. Ob Sunaks Schaden aber auch Starmers Nutzen ist, das muss sich erst noch herausstellen.