Profil:Canan Kaftancıoğlu

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(Foto: Burhan Ozbilici/AP)

Die Istanbuler CHP-Chefin ist Erdoğans Erzfeindin - nun steht sie vor Gericht.

Von Christiane Schlötzer

Als sie Anfang 2018 in Istanbul als erste Frau an die Spitze der fast 100 Jahre alten Republikanischen Volkspartei, der CHP, gewählt wurde, war sie auch schon dem türkischen Präsidenten aufgefallen. 27 Minuten lang sprach Recep Tayyip Erdoğan in einer Fraktionssitzung über die Oppositionspolitikerin. So lange redet er sonst selten über eine einzelne Person. Aber womöglich ahnte Erdoğan damals bereits, dass ihm Canan Kaftancıoğlu einmal das Leben schwer machen würde. "Terroristin" nannte er sie, und dass ihr Mann Schweinefleisch essen würde, sagte er auch. Mit der Anschuldigung kann man den Ruf eines Muslims zerstören.

"Ich wurde zum Ziel gemacht", sagte Kaftancıoğlu danach der SZ. Jetzt, gut ein Jahr später, feiert die Istanbuler CHP-Chefin den bislang größten Erfolg ihrer Karriere. Sie gilt als die Frau, die maßgeblich den Erdrutschsieg von Ekrem İmamoğlu bei der Bürgermeisterwahl in Istanbul ermöglicht hat. Sie hat die Kandidatur des zuvor weitgehend unbekannten Bezirkspolitikers durchgeboxt, seine Kampagne gegen die Medienübermacht mitorganisiert. In der Nacht des Sieges am Sonntag standen die beiden gemeinsam vor Tausenden jubelnden Anhängern. Und nun soll Kaftancıoğlu offenbar für diesen Wahlerfolg gegen Erdoğans Partei büßen.

An diesem Freitag muss die 47-Jährige vor dem 37. Gericht für schwere Straftaten in Istanbul erscheinen. Sie ist angeklagt wegen Präsidentenbeleidigung, Beleidigung der Türkischen Republik und Propaganda für eine Terrororganisation. Beweise: 35 Tweets aus den Jahren 2012 bis 2017. Die Staatsanwaltschaft verlangt bis zu 17 Jahren Haft. Die Anklage für die schon Jahre alten Social-Media-Posts wurde Ende Mai erhoben. Da hatte Imamoğlu in Istanbul zum ersten Mal gewonnen, aber die Wahlbehörde hatte ihm auf Druck von Erdoğans AKP das Amt wieder weggenommen. Kaftancıoğlu kämpfte weiter für ihren Kandidaten. Deshalb war sich ihre Partei sofort sicher, dass die Anklage ein "Einschüchterungsversuch" sei. Das Verfahren sieht die CHP nach gewonnner Wahl nun als "Racheakt".

Seit Kaftancıoğlu im Amt ist, erhält sie Drohungen. Beleidigende Tweets kann sie fast täglich lesen, vor dem Gerichtstermin zum Beispiel: "Du wirst zahlen. Man wird dich dorthin bringen, wo Selo ist." Gemeint ist Selahattin Demirtaş, der bekannte Kurdenpolitiker, mit dem sie sich einst fotografieren ließ. Inzwischen ist er im Gefängnis. Von dort aus hatte er zu Imamoğlus Wahl aufgerufen.

Kaftancıoğlu nimmt sich in ihren eigenen Tweets gern den türkischen Machismo vor und die ewige Sucht nach dem "immer größer, höher, teurer". Sie ist scharfzüngig, auffällig, trägt ihre Haare kurz, die Lippen hellrot geschminkt, und zumindest früher fuhr sie gern Motorrad, was Frauen in der Türkei selten tun. Sie kommt aus einer konservativen, religiösen Familie vom Schwarzen Meer, wie Imamoğlu, wie Erdoğan. 1972 wurde sie in einem Dorf in der Provinz Ordu geboren. Der Vater war Lehrer, das Geld zu Hause knapp. "Bei uns waren Gerechtigkeit und Gewissen wichtig", sagt sie. "Unter schwierigen Umständen" sei sie aufgewachsen. "Aber ich habe gelernt, wenn ich etwas will, kann ich kämpfen."

Als erstes Mädchen aus dem Ort ging sie zum Studium in die Stadt. An der Uni hat sie sich auf Gerichtsmedizin spezialisiert, für ihre Doktorarbeit untersuchte sie Folterfälle aus den Neunzigerjahren. In die Politik zog es sie, "weil ich als Ärztin mein Land nicht verändern kann". Ihr Mann ist ebenfalls Arzt. Sogar auf Handys seiner Patienten kamen anonyme Angriffe gegen Kaftancıoğlu. Sie hat schon eine Weile Polizeischutz. Das Paar hat eine Tochter, sie versuchen, sie aus der Öffentlichkeit herauszuhalten. Der Vater ihres Mannes war ein bekannter Journalist und Schriftsteller, er wurde 1980 erschossen.

"Die Türkei", sagte sie vor einem Jahr, "ist ein Überraschungsland". Damals glaubte noch niemand an einen Wechsel in Istanbul.

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