Profil:Ariane Mnouchkine

Profil
(Foto: Bernd Thissen/dpa)

Die Regisseurin und Theatergründerin erhält den Goethepreis.

Von Joseph Hanimann

Hält man der Regisseurin Ariane Mnouchkine am Eingang des Théâtre du Soleil im Pariser Stadtwald Vincennes seine Eintrittskarte zum Abtrennen hin, steht man einer Theaterlegende gegenüber. Seit Jahrzehnten empfängt Mnouchkine dort an der Tür ihre Zuschauer, denn Theater ist für sie mehr als ein Bühnenereignis. Es ist Gemeinschaftserfahrung, eine Schule für Konsens und Dissens, ein ästhetisches Ritual, ein politischer Akt. All dies soll mit dem Goethepreis der Stadt Frankfurt wohl geehrt werden, den die Grande Dame des zeitgenössischen Theaters nun bekommt.

Seit mehr als 50 Jahren ist sie mit ihrer Truppe ihrem ursprünglichen Funktionsmodell treu. Mit 25 Jahren gründete sie 1964 das Théâtre du Soleil, es war die Zeit der künstlerischen Kooperativen, der Experimente und Kollektivproduktionen. Die meisten dieser Initiativen sind bald erlahmt. Nicht so am Théâtre du Soleil. Produziert wird dort heute noch gemeinsam, selbst wenn die temperamentvolle Chefin klar den Ton angibt. Gelebt wird weitgehend im Kollektiv, vor allem während der ausgedehnten Reisen. Beim Schminken hilft man sich gegenseitig, auch beim Bühnenumbau tun alle mit.

Das Théâtre du Soleil ist beinahe eine Schicksalsgemeinschaft, im klassischen Sinn, wie ihn Molière als Dramatiker, Theaterdirektor und Schauspieler vor mehr als drei Jahrhunderten praktizierte. Ihm hat Mnouchkine mit ihren Schauspielern 1978 ein großes Filmfresko gewidmet. Wichtiger als die Filme sind aber die Theateraufführungen. Den Weg zur Cartoucherie von Vincennes, Spielort der Truppe seit 1970, schlägt man ein wie ein Pilger: Man kommt früh und geht spät, um das für jedes Stück konzipierte Ambiente und Küchenangebot auszukosten.

Repertoirestücke, Geschichtsfresken und aktualitätsbezogene Gemeinschaftskreationen machen das Spektrum der bisher rund 30 Produktionen des Théâtre du Soleil aus. Berühmt wurde die Truppe in den frühen Siebzigern mit den Stücken "1789" und "1793", Panoramen von Glanz und Schatten der Französischen Revolutionsjahre. Bald kam Shakespeares Werk hinzu. Fünf Stücke hatte die Truppe von ihm im Programm, zuletzt vor drei Jahren "Macbeth". Die "Orestie" von Aischylos, Molières "Tartuffe" oder eine Bearbeitung von Klaus Manns "Mephisto" waren weitere Textvorlagen. Im Unterschied zu anderen Regisseuren ihrer Generation von Peter Stein bis Patrice Chéreau sucht die heute 78-jährige nicht primär neue Aspekte aus den Stücken zu schälen, sondern benützt sie als Materialvorlage für eigene Visionen, die sie als Parabeln unserer Zeit auf die offene Bühne zaubert.

Großflächigkeit und Detailgenauigkeit zeichnen ihr Theater aus. In einem Stück über den kambodschanischen Herrscher Norodom Sihanouk schillerten zwielichtig die Pracht, das heraufziehende Unheil und die skurrile Komik des Königreichs vor dem Terror der Roten Khmer. Das Stück "Indiade" zeichnete in Gestik, Tonfall, Ästhetik und Symbolik die Anfänge der indischen Unabhängigkeit nach. Indien als Kulturraum, Denkort und Lebensform steht auch in Mnouchkines jüngster Produktion "Une chambre en Inde", ein Zimmer in Indien, im Mittelpunkt. Sie zeigt halb satirisch, halb emphatisch eine im indischen Straßentrubel gestrandete westliche Künstlergemeinde im Ringen mit sich selbst und dem Chaos der Welt.

Migration, Kriege, Verfolgung und immer wieder unfreiwillig komisch wirkende politische Macht sind Grundthemen, die in Ariane Mnouchkines Theater zwischen Archaik und Aktualität neu verwoben werden. Ihr Theater wirkt durch Bilder, nicht durch Thesen. Letztere behält sie sich für politische Wortmeldungen vor. Zur Zeit der serbischen Gewalt in Srebrenica ging das bis zum Hungerstreik, mit dem Mnouchkine das Eingreifen des Westens erwirken wollte. Ihr Theater ist ein Totaltheater, dessen Horizont immer wieder zerreißt in unvergesslichen Rätselbildern.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: