Als sich die rechtsradikale Terrorbande NSU am 4. November 2011 selbst enttarnte, versank die Republik vor Scham und Entsetzen im Boden. Die Kanzlerin versprach, alles zu tun, um die Mordserie aufzuklären. Sechs Jahre später hat es der Rechtsstaat noch immer nicht geschafft, dieses Versprechen einzulösen. Derzeit ist der wichtigste Prozess der Nachwendezeit festgefahren. Seit Wochen wird der NSU-Prozess durch Befangenheitsanträge lahmgelegt.
Was im Gerichtssaal vorgeführt wird, hat mit Wahrheitsfindung nichts mehr zu tun, es ist nur noch eine Leistungsschau juristischen Durchhaltevermögens. Es geht darum, wie viel Energie die Verteidiger noch haben, um immer wieder neue Befangenheitsanträge zu formulieren: Jeder Halbsatz eines Richters ist ihnen Grund genug. Und es geht darum, ob das Gericht schnell genug ist, all diese Anträge innerhalb von drei Wochen zu entscheiden. Denn nur drei Wochen lang darf der Prozess unterbrochen sein, sonst platzt er. Darum geht es einigen Verteidigern: den Prozess auf den letzten Metern platzen zu lassen. Natürlich können Befangenheitsanträge als "rechtsmissbräuchlich" abgelehnt werden - aber bis es so weit ist, müssen Dutzende dieser Anträge beschieden werden. Rechtsmissbräuchlich ist dann vielleicht der 50. Oder der 100. Das kann nicht der Sinn des Strafprozesses sein. Aber die Strafprozessordnung lässt es zu.
Es ist kaum zu erklären, warum sich der Rechtsstaat beim NSU-Prozess so schwertut
Selbst ausdauernde Juristen sagen, man müsse das nur noch "erleiden". Andere zünden im Geiste am Wallfahrtsort Altötting eine Kerze an - offensichtlich in der Furcht, dass ohne himmlischen Beistand der Prozess nie zu Ende geht. Es ist kaum mehr verständlich zu machen, warum der Rechtsstaat sich hier so schwertut. Die RAF-Verfahren dauerten zwei Jahre, alle Auschwitz-Prozesse zusammen vier Jahre. Der NSU-Prozess ist jetzt im fünften Jahr. Viele Bürger zweifeln ohnehin an der Handlungsfähigkeit des Staates. Das NSU-Verfahren wäre für sie ein weiteres Indiz dafür, dass der Staat sich in seinen eigenen Regeln verfängt.
Immer wieder reisen die Hinterbliebenen der Opfer an, um bei den Schlussplädoyers der Nebenklage etwas zum Verlust ihres Vaters oder Mannes zu sagen. Sie bereiten sich vor, nehmen ihren Mut zusammen. Und dann reisen sie wieder ab, weil der Prozess unterbrochen wurde. Die Angehörigen müssen hilflos dem juristischen Hickhack zusehen. Ein Teil der Verzögerung liegt ausgerechnet daran, dass das Gericht auf keinen Fall einen Fehler machen will. Inhaltlich ist seit zwei Jahren alles geklärt, was dieser Prozess klären kann. Jetzt geht es nur noch darum, ihn revisionssicher zu machen, damit der Bundesgerichtshof das Urteil später nicht aufhebt. Deshalb schleicht das Gericht auf Samtpfötchen, um nur ja keinen Angriffspunkt zu bieten. Lieber verhandelt man noch einen Monat länger und noch einen. Das Gericht setzt auf Zermürbung: Irgendwann werde allen Beteiligten schon die Luft ausgehen.
Doch dadurch wird der Prozess nicht besser, er entwertet sich allmählich selbst. Die Zeit geht über ihn hinweg. Schon jetzt verselbständigen sich die Mythen um den NSU. Wenn das Urteil nicht bald kommt, verliert die Wahrheit gegen die Verschwörungstheorien.