Presseschau zur Wahl in Schleswig-Holstein:"Rösler genießt maximal eine Galgenfrist"

Die meisten Kommentatoren deutscher Medien sind sich einig: Das Ende der drastischen Wahlniederlagen der FDP hat vor allem mit ihrem Kieler Frontmann Wolfgang Kubicki zu tun. Auf die politische Zukunft von FDP-Chef Philipp Rösler geben Deutschlands Meinungsmacher kaum noch etwas: Denn die Partei wolle das Verlierer-Image loswerden - und das sei aufs engste mit Rösler verknüpft.

Westdeutsche Allgemeine Zeitung (Essen): "Es bewegt sich schon was, etwa in Richtung Ampel: FDP-Mann Kubicki hat im Wahlkampf für Lohnuntergrenzen und höhere Spitzensteuersätze geworben. So sozialliberal war die FDP lange nicht - so erfolgreich auch nicht."

Wahlkampfabschluss der FDP in Kiel Rösler Kubicki

FDP-Spitzenkandidat Wolfgang Kubicki machte in Schleswig-Holstein auch Wahlkampf auf Kosten von Philipp Rösler - und fuhr ein ansehnliches Ergebnis ein. Dieses Foto von Rösler vor einem Kubicki-Poster entstand beim Wahlkampfabschluss der FDP in Kiel Anfang Mai.

(Foto: dpa)

tagesschau.de (Hauptstadtstudio Berlin): "Als Wahlsieger darf sich Wolfgang Kubicki fühlen, obwohl er den liberalen Stimmenanteil fast halbiert hat. Aber seine Strategie ist aufgegangen: Der FDP-Solotänzer hat gegen seine eigene Bundespartei Wahlkampf gemacht - und gewonnen. Eine Trendwende für den Bund ist das ganz sicher nicht. Es spricht höchstens für Kubickis Selbstüberschätzung, wenn er seinem Parteichef Philipp Rösler zusichert, der könne nun wieder ruhig schlafen. Rösler ist angezählt, der Putsch gegen ihn ist vielleicht aufgeschoben, aber nicht abgesagt. Daran wird wohl auch ein zweiter liberaler Erfolg bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen nächste Woche nichts ändern."

Flensburger Tageblatt: "Statt Auflösungserscheinungen, die sich panikartig ausgebreitet hätten, wäre da nicht das 'Wunder Kubicki' gewesen, kann die Bundes-FDP nun einen geordneten Umbau der Spitze beginnen. Die Tage von Philipp Rösler sind gezählt. Sowohl der schleswig-holsteinische FDP-Fraktionschef als auch sein Düsseldorfer Parteifreund Lindner haben sich klar von dem Bundesvorsitzenden abgegrenzt. Doch die Wiederauferstehung der FDP - sie flog zuletzt aus sechs Landesparlamenten - wird nicht nur personelle Folgen haben. Kubicki und Lindner stehen nicht nur für schwarz-gelbe Koalitionen. Verstärkt werden sie wieder die sozialliberale Machtoption ins Auge fassen."

Cicero (Berlin): "Wolfgang Kubicki hat es geschafft. Die Erleichterung war ihm sichtlich anzumerken. Er, der eigentliche Freibeuter im Norden, der Musterquerulant, der doch in seiner eigenen Partei immer Außenseiter war. Kubicki, der nie wirklich in der Bundes-FDP angekommen ist, der nie nach Berlin wollte, sorgt jetzt dafür, dass das Herz der FDP zumindest für eine Woche im Norden Deutschlands schlägt."

General-Anzeiger (Bonn): "Der Erfolg ist eng mit dem Namen Kubicki verknüpft; der Spitzenkandidat hatte mit einem Wahlkampf gegen die Berliner Partei durchschlagenden Erfolg. Die Partei wird in der kommenden Woche keine weitere Personaldebatten führen. Aber es rumort in der FDP."

Schwäbische Zeitung (Leutkirch): "Die FDP kann es schaffen, Schwarz-Gelb aber nicht, das ist die Botschaft der Kieler Wahl. Kanzlerin Angela Merkel kann zwar hoffen, dass die FDP jetzt wieder selbstbewusster und ruhiger im Bund mitregiert. Doch den Erfolg hat Wolfgang Kubicki in Kiel völlig gegen die Bundespartei geholt - bei Christian Lindner dürfte es ähnlich kommen. Die FDP ist vorübergehend gerettet. Doch Philipp Rösler steht weiter in der Pflicht, zu zeigen, wofür die FDP im Bund gebraucht wird."

Zeit Online (Hamburg): "Die parlamentarische Demokratie, die so gern als unbeweglich, altbacken und weltfremd beschimpft wird, ist lebendiger denn je. Sechs Parteien ziehen in den künftigen Landtag in Kiel ein. Sieben Parteien könnten im nächsten Bundestag vertreten sein, wenn man CDU und CSU einzeln zählt (was nicht erst seit dieser Legislaturperiode ratsam ist). Mehr Parteien im Parlament, heißt es oft, mache die Regierungsbildung schwerer. Diese Klage aber zeugt mehr von Sehnsucht nach alten Zeiten denn von analytischer Tiefe. Tatsächlich sind in einem Sechs- oder Sieben-Parteiensystem Koalitionen nur dann schwierig, wenn sich die Parteien als zu unbeweglich erweisen, andere als die üblichen Bündnisse auszuprobieren."

Weser-Kurier (Bremen): "Eine Schicksalswahl sollte es sein, in mehrfacher Hinsicht: Die Umfragen wiesen auf einen Machtwechsel hin. Die FDP musste um ihre Existenz bangen, die Grünen sich vor der Konkurrenz der Piraten fürchten. Und die Piraten davor, dass schillernd zu sein doch nicht reicht, um in einen weiteren Landtag einzuziehen. Viele Wähler hat das alles offenbar kalt gelassen. Erschreckend viele. Sehr kalt."

Frankfurter Allgemeine Zeitung: "Was Kubicki in Schleswig-Holstein gelungen ist, wird Lindner in Nordrhein-Westfalen weitgehend kopieren können. Auch er hat es mit einem CDU-Spitzenkandidaten zu tun, der es bislang nicht vermag, seine Partei in Fahrt zu bringen; der die Finanzpolitik in den Mittelpunkt stellt und damit einen weiteren Grund liefert, um ein gutes Werk zu tun und FDP zu wählen. Doch wenn Lindner den Kubicki-Coup wiederholt, wird die Frage noch bohrender, die sich der FDP seit Wochen stellt: Wo ist im Bund der Kandidat, der kann, was in den Ländern möglich ist? Wo ist vor allem der Spitzenkandidat, der es nicht mit einem relativ schwachen CDU-Nebenmann zu tun hat, sondern mit einer starken Frau aufnehmen muss, der Kanzlerin? Der Name des Parteivorsitzenden Rösler drängt sich da nicht auf."

"Schwarz-Gelb ist genauso zerschossen wie Rot-Grün"

Mittelbayerische Zeitung (Regensburg): "Zwei Wahlsieger - CDU und SPD -, die mit ihrem Ergebnis nicht das anfangen können, was sie eigentlich wollten. Zwei gefühlte Sieger - FDP und Piraten -, die nicht gebraucht werden. Und einen linken Absturz. Die Wähler im Land zwischen den Meeren haben ein Wahlergebnis beschert, über das noch lange gerätselt werden wird. (...) Auf der anderen Seite hat die 'Wiederauferstehung' der FDP vor allem mit ihrem Vormann Wolfgang Kubicki zu tun. In NRW traut man einen ähnlichen Coup Christian Lindner zu. Rösler ist längst FDP-Vorsitzender von Kubickis und Lindners Gnaden. Die Kette, mit der sich die Liberalen an die Union binden, dürfte bald zerschlagen werden."

Lausitzer Rundschau (Cottbus): "Zwei Megatrends spiegelt die Schleswig-Holstein-Wahl wider. Der eine: Schwarz-Gelb verliert seine Mehrheit. Landtagswahl um Landtagswahl, bundesweit, zehnmal in Folge nun schon. Und das sogar, wenn die FDP nicht gleich rausfliegt, sondern sich, wie gestern, dank ihres Spitzenkandidaten Wolfgang Kubicki noch einmal retten kann. Der zweite Megatrend: Rot-Grün, die Opposition im Bundestag, kann davon nicht profitieren. Man gewinnt zwar, siegt aber nicht. Rot-Grün ist in Piratengewässer geraten, überall lauern Abstauber und Untiefen. Der einzige rettende Hafen heißt oft nur noch Große Koalition."

Financial Times Deutschland (Hamburg): "Die FDP in Schleswig-Holstein hat dank des Wolfgang-Kubicki-Effekts gewonnen, der so aussieht: Man nehme einen durchaus charismatischen Politiker, der glaubhaft einen Selfmademan darstellt, und schneide den Wahlkampf auf ihn persönlich zu. Die Lehre daraus ist, dass es bei der FDP derzeit vornehmlich auf den Spitzenkandidaten ankommt. Für die Bundes-FDP sieht es dann aber düster aus, denn der Vorsitzende Philipp Rösler scheint mit dieser Aufgabe überfordert zu sein."

Eßlinger Zeitung: "Wieder einmotten kann man das Totenglöckchen für die FDP. Doch der Klassenerhalt geht allein auf das Konto der Ein-Mann-Show Wolfgang Kubicki, der stets sein Ego gepflegt und sich auf Kosten der Bundespartei profiliert hat. Bundeschef Philipp Rösler genießt daher maximal eine Galgenfrist. Bringt die Wahl in Nordrhein-Westfalen dem Rösler-Gegner Christian Lindner ebenfalls einen Erfolg, kann es schnell gehen - und der glücklose Parteichef ist weg."

Nürnberger Nachrichten: "Totgesagte leben offenbar doch länger. Die FDP lag schon halb im Grab - und hat sich nun in Schleswig-Holstein erstaunlich vital zurückgemeldet auf der politischen Bühne. Aber welche FDP ist das denn, die da gewonnen hat? Sicherlich nicht die FDP von Philipp Rösler: Wolfgang Kubicki führte einen Wahlkampf vor allem gegen seinen Berliner Parteivorsitzenden. Bei Christian Lindner ist das ähnlich: Die Sieger-FDP dürfte daher alles tun, um ihr Verlierer-Image möglichst rasch loszuwerden. Und das ist aufs engste mit Rösler verknüpft. Dass da Putschgerüchte kursieren, kann nicht überraschen. In ruhigeres Fahrwasser kehren diese Liberale nicht zurück: Sie werden streiten über ihr Spitzenpersonal und über ihre Ausrichtung."

Stern.de (Hamburg): "Neben den Piraten gibt es eigentlich nur einen Gewinner dieser Wahl: Wolfgang Kubicki, Chef der FDP. Er hat mit seiner One-Man-Show gut acht Prozent geholt. Das ist, angesichts der katastrophalen Lage der Bundespartei, eine Sensation. Aber auch Kubicki wird nach seiner Party heute Nacht irgendwann beim Kamillentee sitzen und feststellen: Die Leute haben ihn gewählt - und nicht die FDP. Und Schwarz-Gelb ist genauso zerschossen wie Rot-Grün. Die Zeit der parteipolitischen Bequemlichkeit ist vorbei."

Südwest-Presse (Ulm): "Schleswig-Holstein sendet viele Signale in die Republik aus. Der Trend ist, wie schon im Saarland, kein Genosse, vielmehr muss sich die SPD mit dem Gedanken vertraut machen, zum strukturellen Juniorpartner der CDU zu werden - wahrscheinlich auch bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr. Schwarz-Gelb, so die zweite Botschaft aus Kiel, ist ein Auslaufmodell, aber immerhin rettet sich die FDP dank ihres Frontmannes Wolfgang Kubicki über die Fünf-Prozent-Hürde. Für Rot-Grün erscheinen die mittelfristigen Aussichten nicht gerade rosig, selbst wenn sich das Blatt in Nordrhein-Westfalen vorübergehend zum Besseren wenden sollte. Wie hoch im Norden fehlt es den beiden potenziellen Partnern auch im Bund an ausreichendem Kampfgewicht."

Main-Post (Würzburg): "Aber für welche FDP steht eigentlich der FDP-Spitzenkandidat von der Waterkant, Wolfgang Kubicki? Jedenfalls nicht für die von Philipp Rösler geführte Partei gleichen Namens. Selten hat ein Spitzenkandidat sein Heil so ausschließlich in der Abgrenzung von der Bundespolitik der eigenen Partei gesucht und gefunden, wie Wolfgang Kubicki. Selten wurde eine Partei so sehr wegen ihres Spitzenkandidaten und so wenig wegen ihres Programms gewählt. Wenn jetzt noch Christian Lindner in NRW die Fünf-Prozent-Hürde knackt - und danach sieht es aus -, haben zwei der größten innerparteilichen Kritiker von Philipp Rösler die Trendwende der Liberalen geschafft."

Spiegel Online (Hamburg): "Die nächsten Monate dürften in der Berliner Koalition reichlich qualvoll werden: Wenn der FDP auch noch ein Erfolg in Nordrhein-Westfalen glückt, wird sie sich zur Größe eines Scheinriesen aufpumpen. Sie wird Merkel bei wichtigen Themen wie Betreuungsgeld oder Vorratsdatenspeicherung Zugeständnisse abtrotzen wollen - und beim kleinsten Widerstand der Union wird als Folterinstrument die Ampel vorgezeigt. Keine schönen Aussichten."

Mannheimer Morgen: "Sollte Christian Lindner, der als FDP-Generalsekretär nicht länger die Entscheidungen des glücklos agierenden Bundesvorsitzenden verkünden wollte und deshalb zurücktrat, am kommenden Sonntag in Nordrhein-Westfalen ebenfalls den Abwärtstrend der Liberalen stoppen, dürften die Tage Röslers als Parteichef gezählt sein. Es war schließlich kein Zufall, dass schon am Wahlsonntag die ersten Putschgerüchte in der Partei kursierten. Sicher, der strahlende Held von Kiel, Wolfgang Kubicki, will zwar kein 'Königsmörder' sein, aber er hat Lindner wohl den Weg an die Spitze der FDP geebnet. Insofern könnte Schleswig-Holstein ein Stück Parteigeschichte schreiben."

Neues Deutschland (Berlin): "Die Linke muss nun mit ihrem ersten Ausscheiden aus einem Landtag fertig werden. Das ist ein Rückschlag, der sich nicht allein mit dem Schlagwort Personaldebatte erklären lässt - aber kein Parteiuntergang, wie mancherorts orakelt wird. Umso wichtiger wird nun die NRW-Wahl in einer Woche. Dass Totgesagte zäh sind, hat gestern erst die FDP bewiesen."

Bild (Berlin): "Im hohen Norden hat Wolfgang Kubicki mit starken Sprüchen und klarem Profil den Liberalen neues Leben eingehaucht. Triumph statt Totenglöcklein! Sicher, die FDP-Führung hat bessere Zeiten gesehen und vieles falsch gemacht. Aber es wäre absurd, wenn die liberale Traditions-Partei stirbt, während bekennend Ahnungslose wie die Piraten ohne echte Idee den Durchmarsch in die Parlamente schaffen."

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