Presseschau zur Nominierung Jean-Claude Junckers:"Repräsentant des europäischen Luftballons"

Das "Opfer" David Cameron, die Notwendigkeit eines "alten Machers" und die "ordnende Hand" der Kanzlerin: So kommentieren deutsche und ausländische Medien den EU-Gipfel und Jean-Claude Junckers Kür zum designierten Kommissionspräsidenten.

Neue Zürcher Zeitung: (Bundeskanzlerin Angela) Merkel hat die Eigendynamik der Spitzenkandidaten-Idee sträflich unterschätzt. In der Folge blockierte der Streit um den neuen Kommissionspräsidenten die EU über Wochen, während sich Grossbritannien mit seiner bedingungslosen Ablehnung Junckers ins Abseits gedrängt sah. Die Kanzlerin besass nicht die Kraft, einen für alle Staaten akzeptablen Chef der Brüsseler Behörde durchzusetzen. Da Frankreich derzeit mit sich selbst beschäftigt ist und Grossbritannien wie die Schweiz im Sumpf seiner Europa-Phobie versinkt, ist wenigstens deutsche Führung notwendig. Auch wenn die Kleinen dies nicht gerne hören, kommt es doch auf die drei Grossen besonders an. Die EU ist so vielstimmig, dass ohne ordnende Hand aus Pluralismus leicht Chaos wird.

De Standaard (Brüssel): Noch haben sich nicht alle Wunschträume für die Europäische Demokratie erfüllt. Und doch ist die Nominierung von Juncker ein Meilenstein. Damit haben wir eine Führungspersönlichkeit, die mehr oder weniger für diesen Job gewählt wurde. Gewählt jedenfalls von Menschen, die selbst gewählt wurden. Nicht hinter den Schirmen, sondern davor. (...) Juncker ist nicht das neue Gesicht Europas, das eurokritische Bürger inspirieren wird. Dafür ist er viel zu sehr mit den alten Brüsseler Gepflogenheiten verbunden. Viel verdankt er Angela Merkel, aber auch dem Europaparlament. Daher wird er auch nicht mehr Handlungsspielraum haben, als wenn er allein Strohmann der Regierungschefs wäre.

De Telegraaf (Amsterdam): Die Entscheidung für Juncker wurde dargestellt als Entscheidung für einen Kandidaten der Demokratie. Doch im Wesentlichen ist der Mann ein Repräsentant des europäischen Luftballons, der aufgeblasen wird bis er platzt. Werden die Briten diesen Ballon nun aufstechen? Oder geschieht das durch den Euro? Natürlich hat Europa große Vorteile: Frieden und Sicherheit, auch der Binnenmarkt. Aber danach hört es schnell auf. Mit Juncker kommt kein neuer Realismus. Der ist nun weiter weg denn je.

La Croix (Paris): Die Ernennung des Christdemokraten Jean-Claude Juncker zum EU-Kommissionspräsidenten ist ein Ereignis. Erstmals in der Geschichte der EU wurden die Ergebnisse der Europawahl bei der Vergabe dieses wichtigen Postens direkt berücksichtigt. Diese ungewohnte Änderung der üblichen Praxis, bei der die Staats- und Regierungschefs im geschlossenen Kreis das Monopol der Wahl behielten, hat ein Opfer gekostet: David Cameron. Der britische Premier hat nicht den neuen Gemeinschaftsgeist der Europaparlamentarier miteinkalkuliert. Die wichtigsten Parteien waren entschlossen, ihre zerbrechliche Legitimität durchzusetzen. Cameron muss erkennen, dass man in Europa Mehrheiten oder Sperrminoritäten bilden muss, um seine Vorstellungen durchzusetzen. Es reicht nicht, nur nationale Interessen zu verteidigen.

Independent (London): Die Kandidatur des ehemaligen Premierministers von Luxemburg, (Jean-Claude) Juncker hat kaum Begeisterung geweckt, auch nicht bei höhergestellten Eurokraten. Er ist das lebende Symbol all dessen, was in der EU heute überholt und nicht mehr aktuell ist, und auch (Bundeskanzlerin) Angela Merkel war kaum beeindruckt von seinem Management der Euro-Krise. Doch (Premier David) Cameron hat in einem gewaltigen politischen Fehlkalkül die Gleichgültigkeit und Abneigung in fast einhellige Unterstützung verwandelt. Dabei hat er sich in eine Ecke manövriert, wo ihm nur der autoritäre Premierminister Ungarns, Viktor Orban, zur Seite stand. Wenn hinter diesem Reinfall irgendeine Strategie stand, dann war sie kaum zu erkennen.

Badische Zeitung (Freiburg): Kritiker halten Jean-Claude Juncker für einen Mann von gestern. Sie haben Recht. Da trifft es sich gut, dass auch die Probleme, die er nun bewältigen muss, von gestern sind. Die Briten wollen weniger EU, die Deutschen beim Thema Energieversorgung oder Etatdisziplin sogar mehr davon. Die Nordländer wollen die Kommission auf hartes Sparen verpflichten, Italiens und Frankreichs Sozialisten erwarten hingegen, dass "gute Schulden" für Wachstum und Beschäftigung irgendwie erlaubt werden. All diese Widersprüche sind unlösbar. Wenn die EU trotzdem nicht auseinanderfliegen soll, braucht es keinen jungen Macher, sondern einen alten Taktierer.

Stuttgarter Zeitung: Mit Großbritannien ist erstmals in einer fundamentalen Entscheidung ein zentrales EU-Land übergangen und ein ehernes Prinzip gebrochen worden: dass Europa nämlich den Konsens sucht. Das Mitleid mit Großbritannien hält sich aber in Grenzen. Wer immer nur nörgelt, gerät nicht nur menschlich ins Abseits, er verliert auch an Einfluss. Im Spiel um Macht und Einfluss hat Angela Merkel auf der europäischen Ebene einen neuen Widersacher auf der Linken: Matteo Renzi. In dem italienischen Regierungschef ist die Testosteronpolitik nach Europa zurückgekehrt. Merkels Alleinherrschaft ist vorüber. In Brüssel wie in Berlin regiert nun eine große Koalition. Das zwingt zu Kompromissen. Jean-Claude Juncker ist da als Mann des Ausgleichs vielleicht gar nicht der schlechteste Kommissionspräsident.

Nordwest-Zeitung (Oldenburg): Es war natürlich Zufall, dass zum 100. Jahrestag des Attentats von Sarajewo die Staats- und Regierungschefs in Brüssel über die Personalie Jean-Claude Juncker stritten. Ein historischer Vergleich verbietet sich, zu unterschiedlich sind die Tragweiten beider Ereignisse. Bekanntlich löste der tödliche Anschlag auf den österreichischen Thronfolger den Ersten Weltkrieg aus und veränderte die politische Statik (nicht nur) in Europa. Eine so gravierende Zäsur ist trotz des englischen Widerstands gegen den Kandidaten Juncker nicht zu erwarten. Dennoch drängt sich die Überlegung auf, welche Folgen die erstmals in einer Kampfabstimmung getroffene Entscheidung für die Zukunft der Europäischen Union haben könnte. Ein Zerwürfnis ist seit Freitag nicht mehr zu bestreiten.

Westfalen-Blatt (Bielefeld): Cameron, Merkel, Hollande und die anderen Staats- und Regierungschefs lassen eine EU zurück, die nicht mehr die gleiche ist. Die Gemeinschaft hat durch das wochenlange Gerangel um die Personalie Juncker ihren Charakter als einiger Block verloren. Zugleich ist man das Risiko einer Partnerschaft mit osteuropäischen Staaten eingegangen, als habe man nichts aus dem Ukraine-Konflikt gelernt. Moskau wird sich revanchieren wollen. Und man hat die Spielräume des wichtigsten Instrumentes, das man aus der Krise in eine neue haushaltspolitische Zukunft mitnehmen wollte, so erweitert, dass Konsolidierung nicht länger eine Tugend ist. Wer es geschickt macht, wird Rüstungsausgaben und den Eigenanteil, der nötig ist, um EU-Zuschüsse zu bekommen, aus seinem Defizit herausrechnen dürfen. Zusammen ergibt das nicht das Bild einer EU, der man zutraut, Herausforderungen der nächsten Jahre zu bewältigen. Man hat sich Wunden geschlagen und Nebenkriegsschauplätze eröffnet.

Rheinische Post (Düsseldorf): Europas neuer Exekutiv-Chef Jean-Claude Juncker ist stärker als alle Kommissionspräsidenten vor ihm - jedenfalls, wenn man die Lage rein formal betrachtet. Der christdemokratische Luxemburger gewann als europaweiter Spitzenkandidat die Wahl, wurde nun von den Staats- und Regierungschefs nominiert und dürfte Mitte Juli vom EU-Parlament mit breiter Mehrheit gewählt werden. Mehr demokratische Legitimation geht kaum - auch wenn der Weg bis dahin holprig war. Juncker muss diese Machtbasis nun entschlossen nutzen, um Europa zukunftsfähig zu machen. Aber welches Europa? Der britische Premier David Cameron will das Ziel der "immer tieferen Union" nicht mehr akzeptieren. Damit ist klar: Europa wird in den nächsten fünf Jahren nur stark sein können, wenn es in mehreren Geschwindigkeiten vorangeht. Der Kern der Euro-Staaten wird sich in Richtung einer politischen Union entwickeln, um die Einheitswährung dauerhaft zu stabilisieren. London wird versuchen, seine Mitgliedschaft auf "light" zu setzen oder gar ganz auszutreten. Letzteres wäre schlecht für die EU wie für die Briten. Junckers große Aufgabe ist es daher, diesen Schritt zu verhindern - aber ohne die nötigen Integrationsschritte zu unterlassen.

Sächsische Zeitung (Dresden): David Cameron wollte das Luxemburger Europa-Urgestein um jeden Preis verhindern, um sich zu Hause als schärfster EU-Kritiker zu profilieren und sich den Rückhalt in der euroskeptischen Konservativen Partei zu sichern. Die Entscheidung für Juncker ist ein Indiz für schwindenden Einfluss der Briten. Mit ihrer Sonderrolle ist es vorbei. Viele in der Gemeinschaft sind es längst leid, sich von London immer wieder mit Sonderwünschen erpressen zu lassen.

Magyar Nemzet (Budapest): Camerons kämpferische Ablehnung des Föderalisten Juncker ist verständlich, denn die britische Europawahl hatte die EU-feindliche Ukip gewonnen, deren erstrangiges Ziel der Austritt Großbritanniens aus der EU ist. (...) Ähnlich verhält es sich mit (Ungarns Regierungschef) Viktor Orban. Auch wenn die (rechtsextreme) Jobbik in Ungarn bei weitem nicht so stark ist wie die Ukip in Großbritannien, so ist doch die allgemeine Haltung in Ungarn gegenüber der EU gelinde gesagt eine kritische. Die Glaubwürdigkeit des (von Orban gegen die EU geführten) "Freiheitskampfes", der der Mehrheit der Wähler der (regierenden) Fidesz-Partei sympathisch ist, hätte schwer gelitten, wenn der Regierungschef der Nominierung Junckers zugestimmt hätte, vor allem, wenn man bedenkt, dass die politische Philosophie und die bisherige Tätigkeit des Luxemburgers all das verkörpern, gegen das die ungarische Regierung in den letzten vier Jahren auf europäischer Ebene angekämpft hat.

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