Süddeutsche Zeitung

Prantls Politik:Whistleblower sind keine Verräter

Trotzdem werden sie oft als Wichtigtuer und Denunzianten gebrandmarkt. Dabei decken sie Missstände in der Gesellschaft auf - dafür gebühren ihnen Respekt und Anerkennung.

Die politische Wochenvorschau von Heribert Prantl

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Woher kommt eigentlich der Name "Whistleblower"? Ich frage Sie, ich frage mich das, weil am kommenden Freitag in Kassel der Whistleblower-Preis 2017 verliehen wird. Kommt der Name vom britischen Polizisten, der mit der Trillerpfeife auf den flüchtenden Straftäter aufmerksam macht? Kommt er vom Schiedsrichter, der bei einem Regelverstoß das Spiel unterbricht? Das ist jedenfalls eine ordentliche Beschreibung für den Whistleblower: Er ist einer, der Missstände, nicht tolerierbare Gefahren und kriminelle Heimlichkeiten abpfeift.

Die Preisträger von Kassel sind aufrechte, mutige Leute. Da ist zum einen der Buchhalter Martin Porwoll, da ist zum anderen die pharmazeutisch-technische Assistentin Maria Klein. Sie deckten auf, dass der Bottroper Apotheker Peter S. Krebsmedikamente aus Profitgier verdünnt hat. Tausende Krebskranke waren auf den Apotheker angewiesen, er aber setzte ihr Leben aufs Spiel. Der Buchhalter Porwoll rechnete nach, was der Apotheker an Wirkstoffen kaufte und was er dann abrechnete. Angesichts der frappierenden Differenzen zeigte er seinen Chef an. Bei Maria Klein meldete eine Arztpraxis, eine Patientin sei zu schwach für die Chemotherapie; man möge deshalb den Infusionsbeutel wieder abholen. Frau Klein, der das Agieren des Apothekers seit langem suspekt war, trug den Beutel zur Polizei; eine Analyse ergab: "keinerlei Wirkstoff". Porwoll und Klein sind jetzt die Kronzeugen der Anklage im Strafprozess gegen den Apotheker - und Preisträger des Whistleblower-Preises 2017. Das Gemeinwohl war ihnen zu Recht wichtiger als Loyalitätspflichten gegenüber ihrem Arbeitgeber.

Der dritte Preisträger ist der türkische Journalist Can Dündar, der vor Staatschef Erdoğan nach Deutschland geflohen ist. Dündar hat drei Monate vor Erdoğans Referendum über die Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei zusammen mit dem Recherchezentrum Correctiv das Online-Magazin Özgürüz gegründet. Es erscheint auf Türkisch und Deutsch, mittlerweile auch gedruckt, und hat das Ziel, den Menschen in der Türkei ungefilterte Nachrichten und investigative Berichte zukommen zu lassen. Ein klassischer Whistleblower ist Dündar natürlich nicht - er ist Journalist; es gehört also zu seinem Beruf, Missstände aufzudecken und zu publizieren. Aber: Dündar ist ein ganz besonderer Journalist: ein Aufklärer und ein Mutmacher zugleich - er ist einer, der zeigt, dass die Pressefreiheit ein Leuchtturm-Grundrecht ist. Auf der Buchmesse in Frankfurt habe ich mit ihm am Messestand der Süddeutschen Zeitung sein Buch vorgestellt. Es heißt: "Verräter. Von Istanbul nach Berlin. Aufzeichnungen im deutschen Exil". Der Whistleblower-Preis ist eine von mittlerweile zehn Auszeichnungen, die Dündar 2016 und 2017 in seinem Exilland Deutschland verliehen worden sind. Man mag über diese Vielzahl schmunzeln. Für Dündar sind es Haltepunkte im Exil; sie sind Medikamente, die helfen, das Gift, das in und aus seiner Heimat gegen ihn gespritzt wird, auszuhalten.

Darf ein Rechtsstaat Verbrechen begehen?

Erdoğan nennt einen wie Can Dündar "Verräter". Die USA nennen einen wie Edward Snowden Verräter. Edward Snowden hat aufgedeckt, dass amerikanische und britische Geheimdienste die halbe Welt abhören, dass sie dazu auch ihre Botschaftsgebäude nutzen, dass sie für Spionagezwecke die internationalen Kommunikationsverbindungen unter ihre Kontrolle gebracht haben - dies alles unter Verstoß gegen internationales Recht, Pakte und Vereinbarungen. Weil Snowden das öffentlich gemacht hat, wird er von der US-Staatsgewalt gejagt. Ist er ein Verräter? Gegenfrage: Darf ein Rechtsstaat Verbrechen begehen? Natürlich darf er das nicht. Ein Rechtsstaat darf nicht gegen Verfassung, Recht und Gesetz verstoßen. Und wenn er es trotzdem tut? Darf der Staat dann denjenigen bestrafen, der das aufdeckt und öffentlich macht? Muss einer, zumindest dann, wenn er Staatsbediensteter ist, den Mund halten, wenn er von schweren Missständen erfährt? Und wann darf er wie den Mund aufmachen und wem gegenüber?

Das sind die rechtlichen Fragen, um die es im Fall Snowden geht: Gibt es ein Recht, rechtswidrige Zustände öffentlich zu machen? Drei Delikte werden ihm vorgeworfen: Diebstahl von Regierungseigentum, widerrechtliche Weitergabe militärischer Informationen, Weitergabe nachrichtendienstlicher Informationen an Unbefugte. Er hätte unbedingt schweigen müssen, sagen die US-Behörden. Allenfalls hätte er sich an den Kongress wenden dürfen. Er habe Staatsgeheimnisse verraten. Sind illegale Geheimnisse wirklich Staatsgeheimnisse, die Strafrechtsschutz verdienen und denjenigen zum Straftäter machen, der sie aufdeckt? Ist der Verbrecher derjenige, der ein Verbrechen anzeigt? So sähen es Regierungen und Sicherheitsbehörden gern; und so wird das Strafrecht gern ausgelegt. Recht ist das nicht.

Es gibt einen Verrat, der keiner ist: Es gibt den Hinweis auf Missstände, Regelverletzungen, auf skandalöses, gemeinwohlschädliches Verhalten, der sozialem Engagement entspringt und der Mut kostet - den Mut, sich gegen die zu stellen, die Unrecht tun und dies vertuschen; den Mut, es als David mit Goliath aufzunehmen; den Mut, die Gefahr nicht zu scheuen, beim Aufdecken von Missständen als Lügner und Nestbeschmutzer gebrandmarkt zu werden. Diesen Mut gilt es zu fördern und zu schützen. Es geht um Zivilcourage, es geht darum, dass Zivilcourage nicht zu einem existentiellen Risiko wird.

Whistleblower sind keine Verräter

Wer Whistleblowern übel will, spricht von Wichtigtuerei oder von Denunziantentum - und betont den guten Sinn von Loyalitätspflichten. Natürlich haben Loyalitätspflichten grundsätzlich ihren guten Sinn. Natürlich gibt es auch hysterische Wichtigtuer, Leute, die unverantwortlich dummes und dramatisierendes Zeug in die Öffentlichkeit quatschen. Es ist Gschaftlhuberei von couragierter Kümmerei zu unterscheiden.

Die Krankenschwester, die unhygienische Zustände im OP nicht dulden will, ist keine Gschaftlhuberin. Und die Angestellten des Apothekers in Bottrop, der die Krebsmedikamente gepanscht hat: Waren sie Wichtigtuer, weil sie ihren Chef nicht haben weiter morden lassen? Und war die Berliner Altenpflegerin, die sich in ihrer Not an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewandt hatte, eine Denunziantin, weil sie die organisierte Entwürdigung der Alten in ihrem Heim nicht mehr aushielt? Muss die Altenpflegerin selber kündigen, wenn das so ist? Oder darf sie versuchen, für bessere Zustände zu sorgen, wenn es gar nicht anders geht, per Strafanzeige? Ist es eine Sauerei, wenn die Angestellte publik macht, dass in ihrem Heim alte Menschen aus Zeitnot am Rollstuhl festgebunden werden? Die Sauerei besteht doch vielmehr darin, dass das geschieht - und die Heimverwaltung trotz aller Hilferufe nicht reagiert!

Whistleblower sind keine Verräter, sie leiden aber oft am schlechten Ruf, den Denunzianten und Wichtigtuer haben. Whistleblower sind Leute, die in den Zeitungen oft als die Heldinnen und Helden des Alltags gefeiert werden. Aber wenn der Whistleblower der Hinweise wegen, die er öffentlich gemacht hat, von seinem Arbeitgeber entlassen oder sonst bedroht wird, braucht er Schutz - da genügen Elogen in der Zeitung nicht. Es sollte endlich ein Whistleblower-Gesetz geben, das solche Nachteile zu vermeiden oder wenigstens zu minimieren hilft.

Und es geht nicht nur um ein neues Gesetz. Es geht auch um den Abschied von einer Denkweise, der jede Art von Widerstand suspekt ist. Hinweisgeber praktizieren Widerstand im Alltag. Manchmal ist Widerstand auch der Widerstand gegen die eigene Angst, gegen die eigene Bequemlichkeit, gegen das eigene Angepasstsein. In vielen Situationen spürt man: Da müsste man doch ...! Aber man lässt es geschehen, schaut weg, verhärtet sich. Der kleine große Widerstand in dieser Situation ist praktizierte Verantwortung.

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