Süddeutsche Zeitung

Prantls Blick:Wie man ein Kind lieben soll

Das Kindergrundrecht muss endlich ins Grundgesetz geschrieben werden. Gedanken zum Internationalen Tag der Kinderrechte an diesem Montag.

Die politische Wochenvorschau von Heribert Prantl

Jeden Sonntag beschäftigt sich Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion und Ressortleiter Innenpolitik der SZ, mit einem Thema, das in der kommenden Woche - und manchmal auch darüber hinaus - relevant ist. Hier können Sie "Prantls Blick" auch als wöchentlichen Newsletter bestellen - exklusiv mit seinen persönlichen Leseempfehlungen.

Ich erzähle Ihnen heute von Hänschen. Hänschen rief: "Sie haben vergessen, dass das Volk nicht nur aus Erwachsenen, sondern auch aus Kindern besteht." Hänschen ist nicht einfach irgendein Hänschen, er ist "König Hänschen der Erste". Also sagt er zu seinen Ministern: "Es soll zwei Parlamente geben, eines für die Erwachsenen, eines für die Kinder."

Das sind Pläne, die in Sondierungs- und Koalitionsgesprächen allenfalls für ein kurzes Schmunzeln sorgen würden, bevor man sich wieder dem Soli und dem Ende des Verbrennungsmotors zuwendet. Die Geschichte vom König Hänschen ist eine wunderbare Geschichte von Janusz Korczak, dem großen polnischen Pädagogen und Schriftsteller. Er erzählt darin, wie Kinder lernen, Streit auszutragen und Alternativen zur gewohnten Ordnung zu finden. Das Buch ist schon alt, es ist 1928 auf Polnisch und auf Deutsch 1988 erschienen. Aber es ist unglaublich modern: Es lehrt die "Pädagogik der Achtung". Nicht nur in seinen Kinderbüchern, auch in seinen Waisenhäusern entwickelte Korczak ein System der Selbstverwaltung der Kinder, er baute demokratische Strukturen dort auf.

Geht nicht, sagen Sie? Es ging - und es geht. Warum und wie? Das ergibt sich schon aus dem Titel seines pädagogischen Hauptwerks, es heißt: "Wie man ein Kind lieben soll". 1926 hat Korczak die erste Kinderzeitung ins Leben gerufen.

Die UN-Kinderrechtskonvention besteht seit 1989

"Alle Tränen sind salzig. Wer das begreift, kann Kinder erziehen, wer das nicht begreift, dem gelingt es nicht, sie zu erziehen." In der Aula des Gymnasiums von Günzburg fällt einem dieser Satz von Janusz Korczak ins Auge. Der Lehrer Sigi Steiger - er ist ein Freund von mir aus Jugendtagen, er stammt wie ich aus der Oberpfalz - hat den Satz dort anbringen lassen. Steiger ist der Vorsitzende der Deutschen Korczak-Gesellschaft, die soeben im baden-württembergischen Welzheim ihre Jubiläumstagung abgehalten hat. Und an diesem Montag verleiht die Europäische Korczak-Gesellschaft den ersten Janusz Korczak-Preis. Am Montag steht nämlich der Internationale Tag der Kinderrechte im Kalender.

Das ist nicht ein beliebig gewähltes Datum: An einem 20. November, am 20. November 1989, haben die Vereinten Nationen in 54 Artikeln die Rechte der Kinder niedergeschrieben. Sie sollen für mehr als zwei Milliarden Mädchen und Jungen auf der ganzen Welt gelten. Im Mittelpunkt dieser UN-Kinderrechtskonvention steht der Artikel 3: Er verlangt, dass bei allen Entscheidungen, die Kinder betreffen, das Kindeswohl vorrangig zu betrachten ist, vor allen anderen Gesichtspunkten also, an alleroberster Stelle. Das geht über alle Abwägungskriterien hinaus, die in den deutschen Paragrafen des elterlichen Sorge- und Umgangsrechts formuliert sind.

Das Hauptwerk des Pädagogen Janusz Korczak trägt, wie gesagt, den neugierig machenden Titel: "Wie man ein Kind lieben soll". Das könnte sich auch die deutsche Politik, das könnten sich auch Koalitions-Verhandler überlegen. Die deutschen Politiker müssen sich nämlich fragen lassen: Warum ist die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen so wenig verankert hierzulande? Warum ist die Kinderrechtskonvention gesetzgeberisch so wenig präsent? Warum muss nicht jedes neue Gesetz daraufhin befragt werden, wie es sich auf Kinder auswirkt? Warum gibt es kein "Kinder-Mainstreaming"? Die Antwort könnte lauten: Weil die Kinder im Grundgesetz nicht vorkommen, jedenfalls nicht als Inhaber von Rechten. Das Grundgesetz kennt keine Kinder, bis heute nicht. Das ist schade, das ist bedauerlich, das ist merkwürdig. Das Grundgesetz schützt zwar mittlerweile auch die Tiere und die Umwelt, aber die Kinder nicht.

Montessori, Pestalozzi und Korczak im Grundgesetz

Alle Anläufe, daran etwas zu ändern, alle Initiativen, ein Kindergrundrecht ins Grundgesetz zu schreiben, sind bisher gescheitert. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass Kinder Wesen mit eigener Menschenwürde und eigenem Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit sind; daraus entspringt, so sagt Karlsruhe, die Verpflichtung des Staats, den Kindern Schutz auch vor dem Missbrauch elterlicher Rechte und Schutz vor der Vernachlässigung durch ihre Eltern zu gewähren.

Das höchste deutsche Gericht hat 2008 "ein Recht des Kindes auf Pflege und Erziehung" zuerkannt und dieses ungeschriebene Grundrecht für Kinder dem Elterngrundrecht nach Artikel 6 des Grundgesetzes gleichgestellt. Das Gericht hat dabei den Bedürfnissen der Kinder den Vorrang vor den Interessen der Eltern eingeräumt. Aber der Gesetzgeber hat sich bisher geweigert, das auch so ins Grundgesetz zu schreiben. Das muss sich ändern. Vor zwei Jahren habe ich deswegen ein Buch mit dem Titel "Kindheit. Erste Heimat" publiziert, es war ein Buch auch im Angedenken an Janusz Korczak, es war eine Werbung für das Kindergrundrecht: Das Grundgesetz muss zu einer Heimat für Kinder werden. Mit dem Kindergrundrecht kämen auch die großen Pädagogen, es kämen Maria Montessori, Johann Heinrich Pestalozzi und Janus Korczak ins Grundgesetz.

Wie sähe ein Kindergrundrecht im Grundgesetz aus? Einfach drei einfache Sätze. Erster Satz, als Leitsatz: "Der Staat schützt die Kinder." Zweiter Satz: "Jedes Kind hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft." Dritter Satz: "Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist." Satz zwei entspricht dem Satz, der im Grundgesetz zum Schutz der Mütter formuliert ist. Satz drei ist identisch mit der Formulierung der Kinderrechtskonvention; er hebt diese in Verfassungsrang.

Eine Pflicht gegenüber den Kindern - und eine Hommage an Korczak

Gewiss: Als Sofortprogramm gegen Gewalt ist so ein Kindergrundrecht untauglich. Ein Kindergrundrecht ist nämlich leider kein Schutzschild, aber: Es ist ein Fundament, auf dem gute Kinderpolitik gedeihen kann. Ein solches Grundrecht nimmt den Staat anders in die Pflicht als das bisher der Fall ist - zum Beispiel bei der Unterstützung überforderter Eltern. Ein Kindergrundrecht wäre eine notwendige Selbstverpflichtung der Gesellschaft. Und ein Kindergrundrecht ist eine besondere Mahnung in flüchtigen Zeiten: Es ist die Mahnung, auch die elementaren Rechte von Kinderflüchtlingen und von Flüchtlingsfamilien zu achten. Flüchtlingskinder haben ein Recht auf ihre Eltern. Und Flüchtlingseltern ein Recht auf ihre Kinder.

Janusz Korczak, der Weise im Waisenhaus, hat 1942 seine Kinder, es waren an die zweihundert, ins Vernichtungslager Treblinka begleitet. Er ist mit den Kindern gestorben, ermordet von den Nationalsozialisten im Zuge ihrer Mordaktionen, die sie die "Endlösung der Judenfrage" nannten. Janusz Korczak wollte die Kinder nicht im Stich lassen. Der Schriftsteller Joshua Perle hat diese Szene in einer Aussage von Ende 1942 so festgehalten: "Die faschistischen Kindermörder waren von einer wilden Wut erfasst, sie schossen unaufhörlich. 200 Kinder standen zu Tod erschrocken da. Gleich würden sie bis auf das letzte erschossen werden. Und dann geschah etwas Außergewöhnliches: Diese 200 Kinder schrien nicht. 200 unschuldige Wesen weinten nicht, keines von ihnen lief davon, keines verbarg sich. Sie schmiegten sich nur wie kranke Schwalben an ihren Lehrer und Erzieher, ihren Vater und Bruder, an Janusz Korczak, damit er sie behüte und beschütze. Er stand in der ersten Reihe. Er deckte die Kinder mit seinem schwachen, ausgemergelten Körper. Die Hitlerbestien nahmen keine Rücksicht. Die Pistole in der einen, die Peitsche in der anderen Hand bellten sie 'Marsch!' Wehe den Augen, die dieses furchtbare Bild mit ansehen mussten. Janusz Korczak, barhäuptig, mit einem Lederriemen um den Mantel, mit hohen Stiefeln, gebeugt, hielt das jüngste Kind an der Hand und ging voraus. Ihm folgten einige Schwestern in weißen Schürzen, und dann kamen die 200 frischgekämmten Kindern... Die Steine weinten, als sie diese Prozession sahen.

"Dieser Mann hat als sein letztes Werk, die "Fröhliche Pädagogik" (1939), hinterlassen. Es ist dies sein Vermächtnis. Dort findet sich sein Satz über den starken Willen: "Man muss wollen, stark und ausdauernd wollen." Ja, man muss wollen: Dann kommt, endlich, auch das Kindergrundrecht ins Grundgesetz. Es wäre dies, es ist dies eine Pflicht gegenüber den Kindern und eine Hommage an den großen Janusz Korczak.

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