Süddeutsche Zeitung

Prantls Blick:Was man vom langweiligsten aller langweiligen Dichter lernen kann

Er schrieb mal 1000 Seiten, auf denen so gut wie nichts passierte: Adalbert Stifter hatte eine Vorliebe für handlungsarme Passagen. Doch er schaffte damit etwas, was uns heute oft fehlt.

Die politische Wochenvorschau von Heribert Prantl

Jeden Sonntag beschäftigt sich Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion und Ressortleiter Meinung der SZ, mit einem Thema, das in der kommenden Woche - und manchmal auch darüber hinaus - relevant ist. Hier können Sie "Prantls Blick" auch als wöchentlichen Newsletter bestellen - exklusiv mit seinen persönlichen Leseempfehlungen.

Aus Anlass des SPD-Parteitags habe ich mich hingesetzt und gezählt, wie viele SPD-Vorsitzende ich in meiner Zeit als Journalist schon erlebt habe; es sind 14, wenn ich Willy Brandt als Ehrenvorsitzenden mitzähle. Das ist im Schnitt ein Vorsitzender alle zwei Jahre. Verglichen damit ist die CDU ein Ort der Ruhe - Kohl, Schäuble, Merkel. Aber auch für die CDU gilt der Satz von Brecht aus dem "Lob der Dialektik": Das Sichere ist nicht sicher; und so, wie es ist, bleibt es nicht. Der CDU stehen nämlich die Post-Merkel Jahre bevor und es könnte gut sein, dass sie so wechselhaft werden wie zuletzt die der SPD.

Der Januar steht im Zeichen der Klausur- und Parteitage: Die CSU gewöhnt sich an ihren designierten Ministerpräsidenten Söder; die SPD erlebt beim GroKO-Werbeparteitag von Martin Schulz in Bonn einen neuen Höhepunkt der Selbstsuche und der flagellatorischen Demokratie; und die Grünen wählen am Ende dieser Woche ihre neuen Vorsitzenden. Die grüne Partei wird, wie es aussieht, eine ganz neue, junge Spitze wählen, die einen echten Generationenwechsel bringt - mit Robert Habeck, 48, und mit Annalena Baerbock, 37. Der eine verkörpert die dritte, die andere die vierte Generation der Partei. Die alten Helden der Partei, Cem Özdemir an der Spitze, werden die Wunden lecken, die das geplatzte Jamaika-Projekt geschlagen hat; und Özdemir wird sich überlegen, ob es schon Zeit ist für Walhall, den Ort des Rückzugs.

Der Erfinder der spannenden Langsamkeit

Das alles ist wichtig und spannend, es wird zu recht viel beachtet und viel beschrieben. Ich möchte Sie daher auf ein ganz anderes Ereignis hinweisen - auf ein Jubiläum, das vermeintlich völlig unpolitisch ist: Am kommenden Sonntag ist der 150. Todestag von Adalbert Stifter. Er ist der bedeutendste Autor des Biedermeier, manchen gilt er als der langweiligste aller langweiligen Dichter. Aber das ist ein grandioser Irrtum. Es ist richtig, dass in vielen seiner Erzählungen so gut wie nichts passiert. Der berühmte "Nachsommer", ein Bildungsroman aus dem Jahr 1857: 1000 Seiten; Heinrich Drendorf, die Hauptfigur, verliebt sich auf Seite 400; keine Abgründe, keine überraschende Wende. Von einer befremdlichen Vorliebe für betont handlungsarme Passagen schreiben mäkelnde Kritiker. Andere halten ihn wegen seiner atemberaubenden Landschaftsbeschreibungen für einen Heimatschriftsteller.

Alles falsch. Stifter ist der Erfinder der spannenden Langsamkeit. Der Münchner Germanist Christian Begemann schreibt: "Im Zeitalter einer rasanten Beschleunigung aller Lebensvollzüge kann man den Nachsommer genießen als eine Art therapeutischen Entschleuniger, man kann ihn lesen als ... den ersten ökologischen Roman." Das Vorbildhafte der kleinen Stifterwelt zeige sich nicht in bedeutenden Ereignissen und umfassenden Plänen, sondern gerade im schlichten, aber völlig durchgearbeiteten Alltäglichen; für Stifter sei es immer das Kleine, in dem sich das Richtige realisiert.

Wie eine versteinerte Träne

Ich habe einen Lehrer gehabt, über den wir Schüler auch deswegen gefeixt haben, weil er bei jeder Gelegenheit Stifter zitierte; am liebsten einen Satz aus dem Beginn der Erzählung "Hochwald". Für die Schönheit dieser Sprache hatten wir damals keinen Sinn, aber so ein Satz, wenn er dem unverständigen Zehnjährigen in der vierten Volksschulklasse stetig wiederholt wird, geht einem ein Leben lang nach: "An der Mitternachtsseite des Ländchens Österreich zieht ein Wald an die dreißig Meilen lang seinen Dämmerstreifen westwärts." So nämlich beginnt "Der Hochwald", so beschreibt Stifter das Gebiet um den Berg Blockenstein. Und am Fuß dieses "Granitgiebels" liegt ein See, der den Erzähler anblickte und der meinen Lehrer so faszinierte wie "ein unheimlich Naturauge" - "tiefschwarz, überragt von der Stirne und Braue der Felsen, gesäumt von der Wimper dunkler Tannen, drin das Wasser regungslos wie eine versteinerte Träne".

Adalbert Stifter litt an Fresssucht, er hat sich schier totgefressen; das Essen war ihm die Belohnung für die Schreibarbeit, vielleicht litt er auch gar nicht daran, vielleicht war sie sein tägliches Fest. Einige überlieferte, "wahrhaft staunenswerte" Speisezettel (so der Germanist Begemann) belegen sechs Mahlzeiten täglich. Das zweite Frühstück konnte aus einem Schnitzel mit Erdäpfelsalat bestehen. Aber auch die Hauptmahlzeiten waren dreigängig üppig. Es wird berichtet, dass einmal die Vorspeise aus sechs Forellen und der Hauptgang aus einer ganzen gebratenen Ente bestand. Aus einem gemütlichen Biedermeierjüngling wurde so ein Mann, der einem melancholischen Fleischermeister glich. Die letzten Lebensjahre waren von fortschreitender Krankheit und seelischer Verdüsterung geprägt. In tiefer Depression beendete Stifter im Januar 1868, zweiundsechzigjährig, sein Leben.

Das tiefe Nichts

Der scharfzüngige Publizist und Satiriker Karl Kraus, einer der bedeutendsten österreichischen Schriftsteller des beginnenden 20. Jahrhunderts, verbeugte sich tief vor Adalbert Stifter - hielt dagegen die meisten Schreiber seiner Zeit für völlig bedeutungslos; er forderte sie auf, (sofern sie noch "ein Quäntchen Menschenwürde und Ehrgefühl" besäßen) vor das Grab Adalbert Stifters zu ziehen. Sie sollten dort "das stumme Andenken dieses Heiligen für ihr lautes Dasein um Verzeihung bitten und hierauf einen solidarischen leiblichen Selbstmord auf dem angezündeten Stoß ihrer schmutzigen Papiere und Federstiele unternehmen". Was hat den bissigen Pedanten Kraus so fasziniert an Stifter?

Die Antwort gibt wohl eine schöne Beobachtung des (derzeit heftig umstrittenen) FAZ-Feuilletonisten Simon Strauß in einem Text über "Das tiefe Nichts" des Böhmerwaldes: Bei Stifter sei nichts zu klein, um von ihm nicht groß beschrieben zu werden. Bei Stifter lernt man, was Stille ist: Es gibt eine Stille, in der man meint, "man müsse die einzelnen Minuten hören, wie sie in den Ozean der Ewigkeit hinuntertropfen". Man fände diese Stille gern in unseren lauten Tagen.

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