Prantls Blick:Warum man mit Russland reden muss

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Einer der Höhepunkte des westlich-russischen Dialogs: Der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher, der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow und Kanzler Kohl bei einem Treffen im Juli 1990. (Foto: dpa)

Die Konfrontation zwischen Westmächten und Moskau in Syrien zeigt: Entspannungspolitik ist nie zu Ende. Es muss sie auch heute geben.

Von Heribert Prantl

Jeden Sonntag beschäftigt sich Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion und Ressortleiter Meinung der SZ, mit einem Thema, das in der kommenden Woche - und manchmal auch darüber hinaus - relevant ist. Hier können Sie "Prantls Blick" auch als wöchentlichen Newsletter bestellen - exklusiv mit seinen persönlichen Leseempfehlungen.

Von Zeit zu Zeit fällt mir die Kiste ein. Zuletzt war das in der Ukraine-Krise so - und soeben wieder. Es war am sehr frühen Samstagmorgen, als ich aufwachte und auf dem Handy die Nachrichten aus Syrien las - die Nachrichten über die Angriffe der Trump-Allianz auf syrische Ziele; die Nachrichten über Vergeltungsschläge für Giftgas-Attacken; die Nachrichten über den sich zuspitzenden Konflikt zwischen Russland und dem Westen; die Nachrichten über die militärische Allianz des französischen Präsidenten Macron und der britischen Premierministerin May mit dem US-Präsidenten Trump.

Der Krieg, in Sütterlinschrift

Die Kiste, die mir in den Sinn kam, ist nicht irgendeine Kiste mit altem Krusch und alten Büchern. Es ist eine schöne, stabile Holztruhe, die einst im Zimmer meiner Großmutter Maria stand - einer resoluten oberpfälzischen Bauersfrau, an die ich in Verehrung denke und über die ich, wie Sie wissen, gelegentlich schreibe. Großmutter hatte 15 Kinder geboren, also einige Kinder mehr, als die Europäische Union in den ersten dreißig Jahren ihrer Existenz Mitgliedsstaaten zählte. Ihre wichtigsten Erinnerungen waren in dieser Holztruhe verwahrt, auf welcher in Sütterlinschrift "Der Krieg" stand.

Darin befanden sich die vielen Briefe, die ihre Söhne und Schwiegersöhne von allen Fronten des Zweiten Weltkriegs und ihre Töchter von den Arbeitsdienst-Einsätzen nach Hause geschrieben hatten. Einer der vielen Briefschreiber war Soldat in der deutschen 11. Armee unter General Erich von Manstein, die 1941/42 versuchte, Sewastopol auf der Krim zu erobern. Ein anderer Briefschreiber, mein Onkel Oskar, liegt im Grab Nummer 687 im US-National Cemetery Hampton/Virginia. Er gehörte zur Besatzung des deutschen U-Boots 85, das 1942 vor Cape Hatteras, vor der Küste von North Carolina, vom US-Zerstörer Roper torpediert wurde. Weil das U-Boot langsam sank, konnten an die vierzig Matrosen in den Atlantik springen. Sie wurden, es war in der Nacht von 14./15. April 1942, von US-Wasserbomben getötet und dann geborgen und beerdigt.

Das Wunder in der Kiste

Was würde Großmutter sagen, frage ich mich bei der Erinnerung an diese Kiste; was würde Großmutter sagen, wenn sie noch lebte? Ich habe das Lesen, das Schreiben und die biblischen Geschichten von ihr gelernt - und auch den Zorn auf den Krieg und auf die Hetze und die Gottlosigkeit der Nazis. Was würde sie sagen? "Schreib was, Bub", würde sie wohl sagen, "schreib was, dass es nicht wieder Krieg gibt". Sie würde mir dann, wie so oft, nicht nur vom Zweiten, sondern auch vom Ersten Weltkrieg erzählen und vom deutsch-französischen Krieg von 1870/71, den sie selbst, sie war 1886 geboren, aus den Erzählungen ihres Vaters kannte. Sie würde, in beschwörendem Ton, von Gravelotte, Verdun und von Sedan berichten und davon, wie sie, knapp dreißigjährig, selbst den ersten Krieg erlebte; wie er auf einmal da war, 1914, mitten im schönsten August. Und dann würde sie vielleicht vom großen "Wunder" reden, das sie kaum glauben könne, wenn sie in ihrer alten Kiste krame. Man müsse dies' Wunder hüten wie ein rohes Ei: das Wunder Europa nämlich und den Frieden.

Das gemeinsame europäische Haus, das vor bald dreißig Jahren zu schönsten Hoffnungen Anlass gegeben hatte, sieht heute schon fast wieder so aus wie der Bahnhof von Bayerisch Eisenstein in den Zeiten des Kalten Krieges: Dort, an der tschechischen Grenze, an der Grenze zum ehemaligen Ostblock, ging eine massive Mauer quer durch die Bahnhofshalle. Das Klo war im Osten. 1991 öffnete Bundeskanzler Helmut Kohl den Grenzbahnhof wieder. Es war, es ist Zeit für eine Neuöffnung Europas. Russland ist, das wird in den letzten Jahren zu oft vergessen, ein Teil davon. Es wäre gut, wenn man das auch in der Art des Umgehens wieder spüren würde.

Die große Entfremdung zwischen dem Westen und Russland

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat soeben in der "Bild am Sonntag" von einer "galoppierenden Entfremdung" zwischen dem Westen und Russland gesprochen. Eine ganze Reihe von ehemaligen Politikern hat das zuvor in einem Beitrag in der FAZ auch wie folgt beklagt: "Gegenseitige Sanktionen, die Schließung von Einrichtungen und Dialogforen, die einmal der Verständigung und Kooperation dienten, folgen in immer schnellerem Rhythmus." Helmut Schäfer (Staatsminister im Auswärtigen Amt von 1987 bis 1998), Edmund Stoiber (Bayerischer Ministerpräsident von 1993 bis 2007), Horst Teltschik (Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz von 1999 bis 2008), Günter Verheugen, (EU-Kommissar von 1999 bis 2010) und Antje Vollmer (Vizepräsidentin des Bundestags von 1994 bis 2005) bedauern, "dass mit dem Beschwören einer russischen Bedrohung eine neue Aufrüstungsoffensive in Gang gesetzt wird" und dass "die Spirale aus Maßnahmen und Gegenmaßnahmen sich zunehmend von den realen Gründen und Anlässen" löse. Ein Zusammenbruch der westlich-russischen Beziehungen und der Abbruch fast aller Gesprächsforen drohe auch noch den Rest an globaler Stabilität zu gefährden; die Erinnerung an zwei Weltkriege mit Millionen von Toten sei verblasst.

Überwindung der Sprachlosigkeit

Die Mahner plädieren für "die Überwindung der Sprachlosigkeit". Über alle Konflikte und Streitpunkte mit Russland müsse offen geredet werden, ohne Vorbedingungen, Vorverurteilungen und Drohungen. "Deutschland und die Europäische Union sollten dazu die Initiative ergreifen". Die Mahner haben ohne Zweifel und ohne jede Einschränkung recht.

Die Mahner schließen an - an einen Aufruf vom Dezember 2014. Es war ein deutscher Aufruf gegen den Krieg, auf den die USA, die EU und Russland nach Meinung der Unterzeichner "unausweichlich" zutreiben würden; und der Aufruf suchte den Weg zu Befriedung. Roman Herzog, der mittlerweile verstorbene Alt-Bundespräsident, hatte unterschrieben und Hans-Jochen Vogel, der Ehrenvorsitzende der SPD. Unterschrieben hatten Altkanzler Gerhard Schröder, viele ehemalige Minister und Verteidigungsexperten. Sie verurteilten die russische Annexion der Krim als völkerrechtswidrig, konstatierten aber gleichzeitig: "Wir dürfen Russland nicht aus Europa hinausdrängen." Der Aufruf war Ausdruck einer Befürchtung, die damals auch den alten, mittlerweile ebenfalls verstorbenen Helmut Kohl in seinem damals neuen Europabuch plagte: "Im Ergebnis müssen der Westen genauso wie Russland und die Ukraine aufpassen, dass wir nicht alles verspielen, was wir schon einmal erreicht hatten." Es ist unendlich viel schief gelaufen, seitdem Putin am 25. September 2001 seine Rede im Bundestag hielt, in der er ein langfristiges und umfassendes Kooperationsangebot machte.

Die Lehren der Geschichte - seltsam leer, wenn es um Russland geht

Kohl verurteilte 2014 zu Recht, dass die G-7-Staaten Russland aus dem Treffen der größten Industrienationen hinausgedrängt haben. Das war nicht Diplomatie, das war Gehabe; Gehabe ist der Geschlechtstrieb der Politik. Dieses Gehabe ist in den vergangenen drei, vier Jahren immer schlimmer geworden. Die Lehren aus der Geschichte sind seltsam leer, wenn es um Russland geht. Erinnerung heißt Befreiung - auch von den alten Feindbildern und den Methoden, sie aufzubauen. Es gilt, auch in den Giftgas-Debatten die Verteufelung des Gegners und die eigene Selbstgerechtigkeit zu vermeiden.

Es fehlt einem der visionäre Pragmatismus von Egon Bahr. Dieser visionäre Pragmatismus hatte, seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts, vermeintlich Unmögliches zum Ziel: mit einer ideologie- und illusionsfreien Politik dem Kalten Krieg allmählich ein Ende zu machen. Das Unmögliche wurde möglich. Das Unmögliche begann ganz klein: Als die Berliner Mauer errichtet war, bestand Brandt-Bahr'sche-Politik nicht darin, ständig nur "Die Mauer muss weg!" zu rufen. Sie wollte die Mauer durchlässig machen und schaffte das zunächst mit einem Passierscheinabkommen, das Westberlinern über Weihnachten Verwandtenbesuche in Ostberlin erlaubte. Das waren die bescheidenen Anfänge des Wandels durch Annäherung. Visionärer Pragmatismus scheut das Kleine nicht - wenn er weiß, dass das Kleine der Einstieg ist zum entfernt liegenden Großen. Das ist es, was den Menschen heute fehlt: Sie haben das Gefühl, sei es in der Europa- oder der Flüchtlingspolitik, dass die Politiker sich im Klein-Klein erschöpfen, dass sie nichts wagen, weil sie kein großes Ziel kennen.

Sanktionen abbauen

Die neue Ostpolitik begann damals damit, dem Ostblock nicht mehr den Rücken zu zeigen, sondern sich ihm zuzuwenden. Die Entspannungspolitik führte zum Grundlagenvertrag mit der DDR; und am Ende stand die gewaltlose Implosion der Sowjetunion. Was lehrt uns das? Es gibt eine Lehre, die weit über das Ende des Ostblocks hinausreicht. Sie lautet: Entspannungspolitik ist nie zu Ende. Es muss sie auch heute geben.

Der frühere Außenminister Genscher hat dem Westen im Jahr 2015, das war ein dreiviertel Jahr vor seinem Tod, geraten, Putin wieder die Hand zu reichen. Das war auch das Anliegen von Egon Bahr. Auch er mahnte, kurz vor seinem Tod bei einer Buchvorstellung: "Wir könnten wie zu Beginn der Entspannungspolitik sondieren - und beginnen, einseitig Sanktionen gegen Russland abzubauen." Die Mahnung gilt immer noch. Sie steht im Testament von Bahr und Genscher. Sie gehört zur Kraft der Hoffnung.

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