Prantls Blick:Radetzkymarsch für die letzte Wahlkampfwoche

Participants of the Pro-Europe 'Pluse of Europe' movement wave European Union flags during a protest at Gendarmenmarkt square in Berlin

Europa muss Heimat werden für die Menschen.

(Foto: Fabrizio Bensch/Reuters)

Die Woche beginnt mit dem 75. Geburtstag von Wolfgang Schäuble, dessen Griechenland-Politik Europa destabilisiert hat - und endet mit der Bundestagswahl, die auch über Europas Zukunft entscheiden wird. Zeit, nachzulesen, was ein Herzenseuropäer schon 1932 schrieb.

Die politische Wochenvorschau von Heribert Prantl

Jeden Sonntag beschäftigt sich Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion und Ressortleiter Innenpolitik der SZ, mit einem Thema, das in der kommenden Woche - und manchmal auch darüber hinaus - relevant ist. Hier können Sie "Prantls Blick" auch als wöchentlichen Newsletter bestellen - exklusiv mit seinen persönlichen Leseempfehlungen.

In seiner Art steht er einzig da. Seine Stärke, sein langes Gedächtnis werden gerühmt. Er ist belastbar und geschickt. Seine Ausdauer zeichnet ihn aus. Manche nennen ihn stoisch. Und seine Stimme ist "ausgiebig". Sein Behagen oder Unbehagen "drückt er aus durch sein Murmeln oder Knurren". So schreibt Brehms Tierleben - über den Elefanten. Und dann heißt es dort, dass er seine "Vollkraft" erst mit 35 Jahren erreiche.

Wolfgang Schäuble sitzt nun schon fast 45 Jahre lang im Bundestag. Niemand anderer im Bundestag nimmt es an politischer Erfahrung mit ihm auf; Schäuble verkörpert zum einen das Vermächtnis der alten Bundesrepublik, aber auch das Werden und das Sein der neuen wiedervereinigten Republik. Dies ist nun keine Wahlwerbung für den 24. September, sondern ein Geburtstagsgruß für einen demokratischen Senator: Am Montag wird Wolfgang Schäuble 75 Jahre alt. Man darf herzlich gratulieren, auch kurz vor der Bundestagswahl, bei der Schäuble wieder kandidiert.

Schäuble, Sohn eines Steuerberaters, gelernter Steuerjurist, war dreißig Jahre alt, als er 1972 für die CDU auf den Hinterbänken des Bundestags Platz nahm. Er hat in seinem politischen Leben mehr erlebt, gemacht und erlitten als drei oder vier andere Politiker zusammen. Er war fast alles, was eine große Partei- und Staatskarriere bereithalten kann. Bundeskanzler freilich wurde er nicht, das hat Helmut Kohl verhindert; und Bundespräsident wurde er auch nicht, das hat Angela Merkel verhindert.

Als Journalist habe ich viel gestritten mit ihm, in Diskussionen und Interviews, gewiss mehr als zwei Dutzend waren es, besonders heftig, als er zum zweiten Mal Bundesinnenminister war und mit seinen Sicherheitsgesetzen den Rubicon überschritt, der die Grenze des Rechtsstaats bildet. Schäuble redete damals auch davon, das Kriegsrecht bei Terroranschlägen anzuwenden. Aber er hat nicht, so wie das heute Spitzenpolitiker in Polen und in Ungarn tun, die Autorität des höchsten Gerichts in Frage gestellt und nicht den Rechtsgehorsam verweigert, wenn er dann dort unterlegen ist. Schäuble äußerte freilich sein Unbehagen über die Urteile des Bundesverfassungsgerichts auf dem Gebiet der inneren Sicherheit durch allerlei Murmeln und Knurren.

Als Finanzminister und Verhandler in der Euro-Krise mit Griechenland hat Schäuble eine Geißler-Strategie angewandt - er hat die Verhandlungen so kaltblütig durchgezogen und den Gegner so sekkiert, wie das einst das Kennzeichen der Generalsekretärs-Taktiken von Heiner Geißler war. Ich habe Heiner Geißler, der in der vergangenen Woche verstorben ist, sehr gemocht und habe oft mit ihm telefoniert, was stets ein Vergnügen war, weil er ein kluger und unabhängiger Kopf war, ein politischer Denker. "Ein freier Radikaler" - so hat ihn die Frankfurter Rundschau in der Überschrift ihres Nachrufs pfiffig genannt. Geißler war ein eingeschworener und wortmächtiger Feind von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit; und gegen Rechtsaußen hat er ausdauernder und kräftiger gekämpft als Merkel und Schulz zusammen.

Weil nun die letzte Wahlkampfwoche anbricht und weil ich eben davon geschrieben habe, dass Schäuble gegen Griechenland eine Geißler-Strategie angewandt habe, will ich von dieser Strategie kurz erzählen, die die jesuitische Listigkeit, die in Heiner Geißler steckte, gut beschreibt.

Es war wohl drei Monate vor der Bundestagswahl von 1998, vor der Wahl also, die, wie damals allseits erwartet, für die CDU und Helmut Kohl verloren ging und zur rot-grünen Koalition unter Gerhard Schröder führte; damals habe ich Geißler einmal gefragt, ob er denn, der alte Fuchs der CDU, wenn es den tiefen Bruch zwischen ihm und Kohl nicht gäbe, ein Rezept hätte, die Wahl und damit die Regierung für die Union noch einmal zu retten - und zwar ohne den Langzeitkanzler Kohl in letzter Minute durch Wolfgang Schäuble zu ersetzen. Geißler überlegte lange und meinte dann, das ginge vielleicht so: Man müsse einen Streik der Müllarbeiter, wie es ihn damals gerade gab, eskalieren lassen, wochenlang. Und dann, wenn sich der Müll in den deutschen Straßen türme und es überall zum Himmel stinke, müsse die Kohl-Regierung die Bundeswehr zum Aufräumen und Saubermachen einsetzen. Die Wähler wären dann, meinte er, erleichtert und begeistert - und hätten wieder Respekt vor der Regierung Kohl. Ob er das ernst meine, habe ich gefragt. Natürlich nicht, antwortete er, aber er sei ja um ein Gedankenspiel gebeten worden.

Die Art und Weise, wie Schäuble vor zweieinhalb Jahren die Verhandlungen der Euro-Gruppe mit Griechenland durchgezogen hat, hat mich an dieses strategische Gedankenspiel erinnert. Schäuble hat die Situation bei den Verhandlungen nicht nur kaltblütig, sondern eiskalt eskalieren lassen - indem er den Griechen mit dem Grexit auf Zeit drohte, so dass dem griechischen Ministerpräsidenten Tsipras und den Seinen das Unheil bis zum Halse stand. Mit dieser Drohung hat Schäuble erzwungen, dass die Griechen noch den kleinlichsten neoliberalen Unsinn akzeptierten und umsetzten. Der Zweck, das war das Motto dieser Schäuble-Aktion, heiligte die Mittel.

Der Zweck bestand darin, die Euro-Zone zu stabilisieren, indem man ein Exempel an Griechenland statuierte und zugleich all den Ländern, die sich nicht an die geltenden Regeln halten wollen, eine Lektion erteilte. Ausbaden musste das hier allerdings nicht ein politischer Gegner, ausbaden mussten das die Menschen in Griechenland. Die massiven Sparmaßnahmen hatten und haben besorgniserregende Folgen: Viele Menschen konnten und können nicht mehr ordentlich medizinisch versorgt werden; viele Menschen, zumal die alten, wussten und wissen nicht mehr, wovon sie leben sollen, die Selbstmordraten sind gestiegen. Die Bevölkerung büßte für die Schulden des griechischen Staates - mit Fleisch und Blut. Europa hat diese Rigorosität nicht gut getan. Der Zweck heiligt die Mittel nicht. Und die Mittel führten nicht zum Zweck, im Gegenteil, sie destabilisieren Europa und helfen dem populistischen Extremismus.

Im Wahlkampf hat die Europapolitik leider keine große Rolle gespielt, sie ist erst vor wenigen Tagen wieder in den Blick geraten, als EU-Kommissionspräsident Juncker eine große Rede zur Zukunft der EU und des Euro gehalten hat. Mehr von diesen Reden und von dieser Zukunft hätte man im Wahlkampf gern von Martin Schulz gehört, der - unbestritten - ein begeisterter Europäer ist. Diese Begeisterung, auch die begeisterte Aufklärung, braucht es aber, um erfolgreich gegen den populistischen Extremismus anzutreten. Diese Begeisterung braucht es auch, um die EU von der Nutzgemeinschaft für Wirtschaft und die Finanzindustrie zu einer Schutzgemeinschaft für die Bürger auszubauen. Europa muss Heimat werden für die Menschen. Das geht nicht mit Geschwurbel, das geht nur mit handfester demokratischer und sozialer Politik, mit einer Politik, bei der die soziale Sicherheit nicht unter die Räder kommt.

In Diskussionsrunden werde ich, weil ich im Frühjahr 2017 eine Schrift mit diesem Titel geschrieben habe, immer wieder nach "Gebrauchsanweisungen" gegen die neuen Extremismen gefragt. Manchmal sind die Gebrauchsanweisungen gar nicht neu. Die Gebrauchsanweisung, in die ich seit dem Brexit besonders gern schaue, wenn es um die Zukunft Europas geht, datiert aus dem Jahr 1932; es ist dies eine Liebeserklärung an Europa. Sie stammt von Joseph Roth, sie steht im Vorwort zu seinem Roman Radetzkymarsch.

In diesem Vorwort führt der Herzenseuropäer Roth (geboren 1894 im galizischen Schtetl Brody, das zu Österreich-Ungarn gehörte, gestorben 1939 in Paris) bittere Klage über den Untergang des alten Europa im und nach dem Ersten Weltkrieg: "Ein grausamer Wille der Geschichte hat mein altes Vaterland", so schrieb er, "die österreichisch-ungarische Monarchie, zertrümmert. Ich habe es geliebt, dieses Vaterland, das mir erlaubte, ein Patriot und ein Weltbürger zugleich zu sein, ein Österreicher und ein Deutscher unter allen österreichischen Völkern. Ich habe die Tugenden und die Vorzüge dieses Vaterlands geliebt und ich liebe heute, da es verstorben und verloren ist, auch noch seine Fehler und Schwächen."

Wie frohgemut, wie euphorisch wäre dieser Joseph Roth heute durch unser Europa gereist; zumindest vor der Flüchtlingskrise, zumindest bevor auf der Balkanroute wieder Stacheldrahtzäune gebaut wurden. Aus Trauer über den Untergang des alten Europa hat er sich damals in den Alkohol geflüchtet, er ist im Kummer ersoffen. Im Europa der EG und der EU hätte er jubiliert, er hätte getanzt in seinem Pariser Stammcafé, dem Café Tournon; und in den Monaten der Flüchtlingskrise hätte er wütend aufgeschrien. Er würde heute davor warnen, dieses Europa der EU zu zerstören, in dem doch sein altes Europa schon ganz neu und noch viel besser auferstanden war.

Zwanzig Jahre lang, seit dem Inkrafttreten des Schengener Abkommens im Jahr 1995, konnten sich die Bürger dieses Kontinents so frei bewegen wie nie; nie gab es in Europa so wenig Schranken, Grenzen, Hemmnisse; Millionen von Urlaubern haben das in ihren Ferien auch im Wortsinne erfahren. Mehr denn je konnten die Menschen in diesem Europa das sein, was Joseph Roth sein wollte: Patriot und Weltbürger.

Soll dieses Europa, kaum aufgeblüht, schon wieder verblühen? Die Bundestagswahl in Deutschland ist keine Europawahl; die nächste, die neunte Direktwahl zum europäischen Parlament ist erst 2019. Aber nicht erst dann entscheidet sich die Zukunft Europas. Es gilt, sich jetzt - heute und morgen und übermorgen - für eine andere Zukunft als die mit populistischen Extremisten zu entscheiden; für eine Zukunft, in der die Menschenrechte Recht bleiben; für eine Zukunft in sozialer Sicherheit; und für eine Zukunft in friedlicher europäischer Nachbarschaft.

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