Prantls Blick:Warum Deutschland eigentlich "Chiemsee-Republik" heißen müsste

Verfassungsversammlung auf Herrenchiemsee

Staatsminister Anton Pfeiffer eröffnete am 10. August 1948 die Verfassungsversammlung auf Herrenchiemsee.

(Foto: dpa)

Auf der Insel Herrenchiemsee entstand vor 70 Jahren der Entwurf für unser Grundgesetz. Es ist erstaunlich, welch ein Werk dort geschaffen wurde - in nur 13 Tagen.

Von Heribert Prantl

Jeden Sonntag beschäftigt sich Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion und Ressortleiter Meinung der SZ, mit einem Thema, das in der kommenden Woche - und manchmal auch darüber hinaus - relevant ist. Hier können Sie "Prantls Blick" auch als wöchentlichen Newsletter bestellen - exklusiv mit seinen persönlichen Leseempfehlungen.

Später, in der Wirtschaftswunder-Zeit, als Hans Ulrich Kempski schon der große Chefreporter der Süddeutschen Zeitung war, fuhr er vor in einem Porsche-Cabrio oder in einem offenen Ford Mustang, Farbe rot. Aber auch die größten Chefreporter und die charmantesten Machos haben klein angefangen - in diesem Fall in einem kleinen Holzboot, paddelnd nach Herrenchiemsee.

Reden über Deutschland, schäkern mit der Bedienung

Das war vor siebzig Jahren, das war im August 1948; dort, im alten Schloss auf der Insel Herrenchiemsee, mitten im Chiemsee, weitab von den kriegszerstörten Großstädten Deutschlands, tagte der Verfassungskonvent und endete nach 13 Tagen mit dem Entwurf für ein Grundgesetz. Die Minister, Staatssekretäre und Staatsrechtler aus Berlin und allen Ländern der Trizone, also der amerikanischen, der britischen und der französischen Besatzungszone, berieten abseits der Öffentlichkeit. Hans Ulrich Kempski, Fallschirmjäger a.D., 2007 im 86. Lebensjahr verstorben, war da gerade 26 Jahre alt geworden; er war damals seit zwei Jahren Reporter und er war ein findiger Kopf. Nichtöffentlich hin oder her - Kempski war dabei und er erfuhr alles. Und weil er so schön mit der jungen Bedienung aus dem Schlossgasthof schäkern konnte, war er, jeweils am Abend nach den Beratungen, derjenige, der als erster an eines der zwei öffentlichen Telefone der Insel durfte - zum "Durchgeben" seines Berichts an die Zentrale.

Hans Ulrich Kempskis Grünzeug

So hat es mir der Kempski vor zwanzig Jahren erzählt, als ich zum fünfzigjährigen Jubiläum des Grundgesetzes über dessen Zustandekommen recherchierte. Ich habe dann das Archiv der Süddeutschen Zeitung gebeten, mir doch die Seite-Drei-Reportagen Kempskis über Herrenchiemsee herauszusuchen. Aber ich lernte, dass Kempski damals noch nicht für die SZ, sondern für die Deutsche Nachrichtenagentur DENA arbeitete, die spätere Deutsche Presseagentur dpa; und ich verstand, was Kempski gemeint hatte, als er 2002 in einem Interview sagte, dass ihm das bloße Nachrichtenschreiben schon bald ein zu enges Korsett wurde, weil dort für "das ganze Grünzeug" am Rande einer Konferenz kein Platz gewesen sei. Im Oktober 1949 holte ihn Werner Friedmann, der damalige Chefredakteur, zur Süddeutschen Zeitung; Kempski wurde Chefreporter, später Chefkorrespondent und Mitglied der Chefredaktion - und hatte den Platz auch "für das Grünzeug", also für Beobachtungen am Rande von Konferenzen und Gipfeltreffen; er entwickelte ein neues Modell des journalistischen Erzählens, "dessen tragendes Strukturprinzip wohl die Personalisierung war" - die große Seite-Drei-Reportage.

Die 33 Herren von Herrenchiemsee

Vor siebzig Jahren, vom 10. bis zum 23. August, tagte der Konvent, tagten die 33 Herren von Herrenchiemsee. Und man darf staunen darüber, welch ein Werk sie in dieser kurzen Zeit geschaffen haben: den kompletten Entwurf für das Grundgesetz, 95 Seiten, 149 Artikel, die teilweise alternativ formuliert waren. Später, in den Jahren 1991 und 1992 (Unabhängige Föderalismuskommission), in den Jahren 2003 und 2004 (Föderalismuskommission I) und in den Jahren 2007 bis 2009 (Föderalismuskommission II) scheiterte man in sehr viel längerer Zeit sowohl mit der Neugestaltung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern als auch, beispielsweise, mit der Reform des Bildungsföderalismus.

Der 13-Tage-Entwurf von 1948 war nicht etwa nur das Spielmaterial für die nachfolgenden neunmonatigen Arbeiten des Parlamentarischen Rats; er findet sich in weiten Teilen der Endfassung des Grundgesetzes wieder: die Stellung und die Kompetenzen der Staatsorgane, die Grundzüge der Beziehungen von Bund und Ländern, die sehr beschränkten Aufgaben des Bundespräsidenten. Die Verfassungsfacharbeiter von Herrenchiemsee waren sich nach den schlechten Erfahrungen mit dem Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten in der Weimarer Republik darin einig, dass der künftige Bundespräsident im Zusammenspiel der Verfassungsorgane keine wichtige Rolle mehr spielen solle.

Der Staat ist für die Menschen da, nicht die Menschen für den Staat

Zwar lag auch dem beherzten Herrenchiemsee-Konvent schon ein Gesetzentwurf vor, der "Bayerische Entwurf eines Grundgesetzes" in 94 Artikeln, ausgearbeitet von dem Staatsrechtsprofessor Hans Nawiasky. Der war 1933 seiner jüdischen Herkunft wegen von seinem Lehrstuhl an der Münchner Universität vertrieben worden und hatte, aus dem Schweizer Exil zurückgekommen, schon auf die Bayerische Verfassung von 1946 maßgeblichen Einfluss genommen. Grundrechte waren aber in diesem bayerischen Grundgesetz-Entwurf nicht vorgesehen. Grundrechte hatte auch die SPD-Führung abgelehnt, weil sie alles ablehnte, was an eine echte Verfassung für einen echten Staat gemahnte; man wollte der deutschen Teilung nicht noch Vorschub leisten. Der Sozialdemokrat Hermann Louis Brill, ein Widerstandskämpfer gegen Hitler, war da anderer Meinung: "Wie soll sonst ein Schutz gegen Willkür garantiert werden?" Über den wunderbaren Hermann Louis Brill habe ich schon in meinem Newsletter vom 10. Juni 2018 Rühmendes berichtet.

Der Sozialdemokrat Carlo Schmid, Literat, Schöngeist und Staatsrechtsprofessor (siehe Newsletter vom 28. Januar 2018), war auch für Grundrechte, andere maßgebliche Fachleute dito: der Berliner (nicht stimmberechtigte) Abgesandte Otto Suhr und der Christdemokrat Adolf Süsterhenn, Justiz- und Kultusminister in Rheinland-Pfalz und Vater der dortigen Landesverfassung. Süsterhenn hat als Verfechter eines christlichen Naturrechts erstmals die später so genannte Ewigkeitsgarantie verfochten, die jeden Eingriff in den Kerngehalt der Grundrechte verbietet. So kam die große Wende im Staatsverständnis, wie sie schon in den neuen Landesverfassungen angelegt war, ins Grundgesetz: Der Staat ist für die Menschen da, nicht die Menschen für den Staat. Es wurden einklagbare Grundrechte formuliert - und das Bundesverfassungsgericht als deren Wächter eingesetzt.

Don Carlos schreibt an der Idiotenfibel

Jeden Tag um 17 Uhr rief damals auf Herrenchiemsee der bayerische Konventsvorsitzende Anton Pfeiffer die zwanzig bis dreißig Journalisten zur Pressekonferenz, die sich anschließend um die zwei vorhandenen Telefone stritten. Pfeiffers Auskünfte betrafen zumeist das, was ihn besonders interessierte: den Föderalismus. Pfeiffer war in der Runde der dreißig der Föderalissimus. Gemeinsam war den Spitzenleuten von Herrenchiemsee ein gesundes Selbstbewusstsein. Es offenbart sich in einer Notiz Brills gegen Ende des Konvents. Er hatte sich mit dem Versammlungsleiter Pfeiffer über die Form unterhalten, die das Ergebnis der Verfassungsarbeiten bekommen sollte. Brill machte seinen Vorschlag, und Pfeiffer antwortete laut Tagebuch: "Einverstanden. Sagen wir es doch offen: Wir machen für den Parlamentarischen Rat eine Idiotenfibel."

Leider gibt es, wie gesagt, keine Kempski-Reportagen von Herrenchiemsee, es gibt nur die Nachrichten, die er für die Nachrichtenagentur geschrieben hat. Aber einer der 33 Herren von Herrenchiemsee hat 13 Tage lang ein Tagebuch geführt. Jeden Abend nach getaner Verfassungsarbeit diktierte er seiner Frau Martha das "Chiemseer Tagebuch". Über die Rede, die der bayerische CSU-Staatsminister Anton Pfeiffer zum Auftakt des Verfassungskonvents gehalten hatte, findet sich darin folgender süffisanter Eintrag: "Don Carlos Schmid bewegt sich währenddessen in seinen Massen wie Moby Dick, der gern Kapitän Ahab werden möchte. Er findet aber keine Gelegenheit zur Aktion, weshalb die Sitzung mit einer bayerischen Solemnität zu Ende geht. Der Pfeiffersche Stil ist eine Mischung von naturwüchsiger, bajuwarischer Mentalität, einem politischen Barock und einer fleißigen, exakten, aber etwas trockenen bürokratischen Manier." Pfeiffer hatte, als Organisator der Tagung, die von den Landesregierungen der Westzonen entsandten Fachleute eingestimmt: "Auf Ihre Schultern ist vor der Geschichte des deutschen Volkes eine überwältigende Verantwortung gelegt."

"Don Carlos", also der Tübinger Staatsrechts-Professor Carlo Schmid, der Fein- und Schöngeist der SPD, Justizminister in Württemberg-Hohenzollern, konnte mit gewaltiger Bildung und mit einer zeituntypischen Leibesfülle aufwarten. Er hätte diese Ansprache wohl noch schöner halten können als Pfeiffer. Schmid hatte Freude an der großen, zitatengetränkten Rede, und er hätte dem bayerischen Pfeiffer gern die Show gestohlen. Man geht nicht fehl, wenn man aus dem Spott in den Tagebuch-Zeilen über "Don Carlos" folgert, dass es sich beim Schreiber um einen Sozialdemokraten handelt. Es war - Hermann Louis Brill.

Glanz, Ausstrahlung, Kraft: Der Aufstieg der Grundrechte

Die Zeitungskommentatoren schrieben damals mit frostiger Distanz: "Die anscheinend bevorstehende Gründung des Weststaates nimmt sich aus wie eine gespenstische Variante der Fiktion Jean Jacques Rousseaus, wonach jeder Staat auf einem Vertrag beruhe", hieß es Anfang August 1948 in der Süddeutschen Zeitung. "Hatte der französische Aufklärer an einen Vertrag zwischen den Staatsbürgern gedacht, so liegt hier ein Übereinkommen zwischen den westdeutschen Ministerpräsidenten und ihren alliierten Partnern vor." Man sollte es, so riet der Kommentator, beim Namen "Weststaat" belassen. Damit sei klar, dass hier keine echte Idee verkörpert sei, "und dass der Staat keiner Fahne fähig ist, um die sich Gefühle sammeln könnten".

Es war ein Irrtum. Das Grundgesetz, die Grundrechte, wurden die Fahne, um die sich Gefühle sammeln konnten. Die Grundrechte gewannen Glanz, Ausstrahlung und Kraft. Unter Anleitung des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe begannen die Deutschen, mit steigendem Wohlstand, ein gutes Gefühl dafür zu entwickeln, was da in der Verfassungswerkstätte von Herrenchiemsee geschaffen worden war.

Am 7. August 1948 stand in der Süddeutschen Zeitung auf Seite Drei, am Ende eines Artikels über die "Verfassungsinsel", die Anmerkung: "Die Konferenz ist bereits das Tagesgespräch der Chiemsee-Anwohner geworden. Die neue Verfassung heißt schon vor ihrer Geburt in Anlehnung an ihre Weimarer Vorgängerin 'Chiemseer Verfassung'." Schade eigentlich, dass sich dieser Name nicht eingebürgert hat. Wir lebten dann heute in der "Chiemsee-Republik". Welch schöner, friedlicher Name.

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