Jeden Sonntag beschäftigt sich Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion und Ressortleiter Innenpolitik der SZ, mit politischen Themen, die in der kommenden Woche - und manchmal auch darüber hinaus - relevant sind. Hier können Sie "Prantls Blick" als wöchentlichen Newsletter bestellen - mit seinen persönlichen Leseempfehlungen.
Damals, vor 27 Jahren, am letzten Arbeitstag der DDR, saß ich im Amtszimmer des Direktors des Stadtbezirksgerichts Berlin-Mitte in der Littenstraße. Die Littenstraße hieß auch damals, zu DDR-Zeiten, schon Littenstraße. Sie war und ist benannt nach dem jungen Strafverteidiger Hans Litten, der 28 Jahre alt war, als er 1932 in einem Strafprozess mit dem Zeugen Adolf Hitler aufeinandertraf und ihn rhetorisch vor Gericht zerlegte. Der Zeuge Hitler hat, so schilderten es Prozessbeobachter, geschrien "wie eine hysterische Köchin", als Litten ihm Terrortaktik vorwarf und ihn mit seinen eigenen Zitaten zwei Stunden lang in die Enge trieb. Kaum an der Macht, hat das NS-Regime den linken Anwalt verhaftet und verschwinden lassen. Im KZ Dachau hat er sich nach fünfjährigem Martyrium im Februar 1938 erhängt. Man darf seinen Namen nicht vergessen.
In dem prächtigen Jugendstil-Palast an der nach ihm benannten Littenstraße residierten in DDR-Zeiten die wichtigsten Gerichte Ostberlins und der DDR. Heute sitzt dort das Amtsgericht Berlin-Mitte. Das Gericht ist ein fast märchenhafter Bau, innen eine gewaltige lange Halle, zwischen die schlanken Pfeiler sind die Umgänge und Emporen eingespannt. Breite, gegenläufige Treppen führen nach oben. In diesem Haus also, das schon den kaiserlichen Richtern, dann denen der Weimarer Republik, dann denen des Hitler-Reiches gedient hatte, erlebte ich den letzten Tag des Staates DDR - im Amtszimmer von Uwe Weitzberg, dem jungen Direktor des Stadtbezirksgerichts Berlin-Mitte, damals 36 Jahre alt.
"Freihalten von rückschauender Selbstveredelung, aber auch von Flagellantentum"
Auf einer außerordentlichen Versammlung der DDR-Richter in Ostberlin hatte ich ihn ein paar Monate vorher kennengelernt. 677 Richter, weit mehr als die Hälfte der Richterschaft der DDR, standen damals ratlos und aufgebracht zugleich auf den Treppen und Emporen des Justizpalastes an der Littenstraße und erklärten, die Richterschaft der DDR sei "in ihrer Masse fähig und bereit", in einem demokratischen Rechtsstaat zu arbeiten. Daraus wurde nichts. Die DDR-Richter wurden in ihrer Masse nicht übernommen. Und da half es nichts, wenn sie sich in ihren letzten Monaten an die Devise von Kurt Wünsche, des letzten DDR-Justizministers, gehalten hatten. Man müsse sich, hatte der gesagt, "freihalten von rückschauender Selbstveredelung, aber auch von Flagellantentum".
Wie gesagt. Hat denen alles nichts geholfen. Ich saß also am letzten Arbeitstag der DDR-Justiz im Amtszimmer des Gerichtsdirektors an der Littenstraße. Und ein paar Szenen, die Stimmung dieses Tages dort, möchte ich Ihnen heute schildern, weil am Dienstag der Tag der Deutschen Einheit gefeiert wird - genau 27 Jahre ist das alles nun her.
Der letzte Tag im Stadtbezirksgericht Berlin-Mitte. Auf den Umgängen und Treppen standen lange Reihen von Waschkörben, vollgestopft mit Formularen. Es waren Vordrucke für den Rechtsverkehr mit Kuba, mit Mosambik, mit Vietnam und mit Ungarn. Niemand brauchte sie mehr, niemand wollte sie mehr brauchen. Die Justizsekretäre hatten die Regale leergeräumt. Die zerfledderten "Kombi-Zusatztaschen" aus dem Sortiment von "Robotron Organisationsmittel", schon dreimal mit Leukoplast geflickt, waren nun Abfall. Dort lagen auch die hektografierten "Aufrufe zum Schutz des sozialistischen Eigentums durch erhöhte Wirksamkeit der Strafverfahren".