Prantls Blick:Verrückt und zugenäht

Rückwärtsgewandt? Thierse fühlte sich missverstanden, beleidigt und verleumdet. Jetzt konfrontierte er die Parteispitze mit seinen verletzten Gefühlen und stellte an Esken die Frage, ob er womöglich aus der SPD austreten solle. Und alle Welt fragte sich deshalb, ob die SPD nun verrückt geworden sei, einen so verdienten und lauteren Menschen so abzumeiern. Wolfgang Thierse, 77, ist ein kluger, ein unbequemer und verletzlicher Politiker, beharrlich und manchmal störrisch, auch ein wunderbarer Redner. "Vater Courage" - so habe ich den früheren DDR-Bürgerrechtler und späteren Präsidenten des Bundestags gelegentlich genannt, weil er schon vor mehr als zwei Jahrzehnten gegen den Rechtsextremismus kämpfte, also zu einer Zeit, als die braune Gefahr noch allgemein abgetan wurde und der Staat noch keine Bündnisse gegen Neonazis initiierte. Thierse war der erste deutsche Spitzenpolitiker, der diese Gefahr erkannte. In einer Zeit, in der die meisten seiner Kollegen noch nicht wussten, was Rechtsextremisten in den so genannten "national befreiten Zonen" treiben, hat er diese gebräunten Gebiete besucht und versucht, dort die demokratischen Gegenkräfte zu stützen und zu stärken.

Er war 67 Jahre alt und Bundestags-Vizepräsident, als er bei einer Sitzdemonstration gegen einen Neonazi-Aufmarsch mitmachte und sich auch von der beißenden Kritik der CDU/CSU nicht irritieren ließ. Seiner inneren Haltung auf diese Weise Ausdruck zu verleihen: Das gehörte für Wolfgang Thierse zur Würde des Amtes. So einer war, so einer ist Wolfgang Thierse - gelernter Schriftsetzer, studierter Germanist. Er wollte nicht nur der Grüß-Gott-Onkel unter dem Bundesadler sein.

Notleidendes Miteinander

Ist so einer rückwärtsgewandt? Ist er es, wenn und weil er zur linken Identitätspolitik Kritisches schreibt? Die Antwort der Sozialdemokratie auf eine fragmentierte Gesellschaft müsse sein, meint Thierse, "dass Solidarität, um die geht es nämlich, kein einseitiges Verhältnis ist, kein Anspruchsverhältnis gegen die anderen, sondern auf Wechselseitigkeit und das Ganze umfassend zielt". Das war ein Werben Thierses um ein gutes Miteinander - und die Reaktion darauf zeigte, wie wichtig, aber wenig praktiziert dieses Miteinander ist. Mittlerweile bemüht sich Esken, die Wogen wieder zu glätten.

Die Berliner Zeitung Der Tagesspiegel, die das Geschehen akribisch nachzeichnete, meinte zu alledem, es grassiere der Eindruck, dass "die SPD kein Hort der Diskussion und anschließender Versöhnung der gesellschaftlichen Gruppen (auch mit sich selbst) ist".

Ich habe mich da gefragt: War das denn jemals so in der SPD? Steht hinter diesem Wunsch nach einem roten Hort der Diskussion und Versöhnung nicht ein eher nostalgisch verklärtes Bild der SPD? In der SPD, auch das gehört zu ihrer Geschichte, sind missliebige Positionen sehr oft sehr heftig niedergemacht worden; unbequeme Mitglieder wurden ausgeschlossen. Ausschlussverfahren gehörten zur Streit- und Kampfkultur der Partei; ein alter Fahrensmann wie Wolfgang Thierse weiß das. Die Partei hat das ausgehalten, weil und so lange sie ein großes Treibhaus der Ideen war, ein brodelnderThinktank. Heute ist sie nicht mehr groß, sie ist auch kein Treibhaus mehr, und wenn etwas brodelt, dann nicht die Argumente, sondern die Gefühle. Die Ausschließerei begann vor über hundert Jahren, als die SPD ihren eigenen Partei- und Fraktionschef Hugo Haase hinausgeworfen hat, weil er zusammen mit fast seiner halben Fraktion im Reichstag die Kredite für den Ersten Weltkrieg nicht mehr genehmigte und damit den sogenannten Burgfrieden mit Kaiser Wilhelm II. störte. Haase gründete dann die USPD. Es waren in der Parteigeschichte fast immer die Linken, die verbannt wurden; Thilo Sarrazin, der rechte Islam- und Integrationsgegner, gehört zu den späten Ausnahmen. Ausgeschlossen wurde 1958 der große Gewerkschafter Victor Agartz, weil er zu sozialistisch dachte und die SPD sich an ihr Godesberger Programm und ihre neue Bürgerlichkeit heranpirschte. Ausgeschlossen wurden linke Sänger und Kabarettisten wie Franz Josef Degenhardt, Wolfgang Neuss und Dietrich Kittner, Politiker wie Christian Ströbele (der in seinen Anfängen noch nicht grün, sondern rot war), Professoren wie Uwe Wesel, dem vorgeworfen wurde, er habe sich zu sehr mit revoltierenden Studenten eingelassen. Disziplinarisch gestraft wurden Genossinnen und Genossen, denen Nähe zum Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und Kritik der US-Kriegsführung in Vietnam vorgehalten wurde.

Politische Schweinerei

Als der Pfarrer Heinrich Albertz, der frühere Berliner SPD-Bürgermeister, deswegen aus Protest sein Amt im SPD-Schiedsgericht niederlegte, begründete er das so: "In einer Gesellschaft, die sich demokratisch nennt, wird man sich daran gewöhnen müssen, dass manche den Mund auftun, wenn sie es für richtig halten und auch Zeitpunkt und Ort ihrer Äußerungen selbst bestimmen." Sein Appell an die Meinungsfreiheit in der Partei verhallte. Ausgeschlossen wurde der SPD-Abgeordnete Karl-Heinz Hansen, weil er die Nachrüstungspolitik von Kanzler Helmut Schmidt als "politische Schweinerei" bezeichnet hatte. Etliche der Ausgeschlossenen kehrten, nach allerlei Wanderungen, wieder in die Partei zurück. Der Politikprofessor Detlev Albers etwa, wurde "wegen des Verstoßes gegen das Kooperationsverbot mit Kommunisten" aus der Hamburger SPD hinausgeworfen; später trat er in die Bremer SPD wieder ein und wurde 1995 ein geachteter Landeschef.

Der SPD von heute fehlt das intellektuelle Feuer, das diese Partei bei alledem an- und umgetrieben hat. Es fehlt ihr vielleicht auch deshalb, weil zu viel niedergemacht worden ist. Der SPD fehlt die Lust und die Freude am Streiten, das Ringen mit und um Positionen.

Der SPD fehlt heute die argumentierende Leidenschaft, die einen wie Wolfgang Thierse noch antreibt. Ihr fehlt die Freude daran, Heimat zu sein für ein möglichst breites Spektrum von Menschen - für kleine Angestellte, für Akademiker, für Klein- und für Großbürger, für die Fans von RTL-Soaps und für die Leser von Habermas. Die SPD war in ihren guten Jahrzehnten eine Brückenschlag-Partei. Es wäre bitter, wenn ihr nur noch die Brücke zum Exitus gelänge. Am kommenden Sonntag beginnt mit den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und in Baden-Württemberg das große Wahljahr. Ich wünsche unserer Gesellschaft fruchtbare Auseinandersetzungen.

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