Prantls Blick:Wie Deutschland die Befreiung lernte

75 Jahre Kriegsende - Berlin

Das Brandenburger Tor in Berlin mit dem Wort "Danke" angestrahlt: Am 08. Mai jährte sich zum 75. Mal das Ende des Zweiten Weltkrieges und die Befreiung vom Nationalsozialismus.

(Foto: dpa)

Bis heute wurden die vielen Defizite der Vergangenheitsbewältigung eingestanden und nachgeholt, was noch nachholbar war. Trotzdem gilt: Demokratie muss man lernen, immer und immer wieder.

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Im bayerischen Kelheim, hoch über der Donau, steht die Befreiungshalle. Als ich, vor meiner Journalistenzeit, ein paar schöne Jahre Amtsrichter in Kelheim war, bin ich ab und an, nach langen Sitzungen, dort hinaufspaziert. Diese Befreiungshalle kam mir immer wieder in den Sinn, wenn ich später, als Kommentator, zu den Jahrestagen der Befreiung der Konzentrationslager und zum 8. Mai, dem Tag des Endes des Zweiten Weltkriegs, zu schreiben hatte.

Diese Befreiungshalle über der Donau wurde aber nicht in den Jahren nach 1945, sondern von 1842 bis 1863 gebaut, zur Erinnerung an die Befreiungskriege gegen Napoleon. Hätte jemand in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg hier eine Befreiungshalle zur Erinnerung an den 8. Mai 1945 errichten wollen - er wäre ins Narrenhaus gebracht worden.

Vom Hakenkreuz hinauf auf die Orgelempore

Eintrag im Tagebuch des Schriftstellers und späteren Diplomaten Wilhelm Hausenstein, niedergeschrieben in Tutzing am Starnberger See am 8. Mai 1945: "Heute Nachmittag im Dankgottesdienst, dem eine recht würdige Aufführung einer Messe von Haydn einigen Glanz gab. Der Cellist Hoelscher wirkte mit, er hatte vom Hakenkreuz auf die Orgelempore hinaufgefunden . . . Ach, keiner will jetzt 'dabei' gewesen sein; keiner hat das Parteizeichen im Rockumschlag ernst gemeint; die Charaktere stehn in Blüte. Es ist zum Speien. Im Rathaus drängen sich Geschäftemacher, suspekte Figuren mit nazistischer Vergangenheit in den Vordergrund. Das Leben scheint nicht anders zu sein. Von einer Umkehr merkt man kaum ein Anzeichen."

Und am nächsten Tag fährt Hausenstein fort: "Sie weinen, wenn man ihnen (fürs Erste) die Wohnungen wegnimmt, um Offiziere und Soldaten einzuquartieren; das heißt: sie weinen über den Verlust der noch immer hergebrachten Bequemlichkeit, aber sie beziehen nichts, rein nichts auf den Gedanken der Züchtigung, deren jeder Deutsche harren muss (jeder, und ich nehme mich wahrhaftig nicht aus). Wollte nun endlich die Kirche das Wort ergreifen! Wollte sie Prediger aussenden, wie Savonarola einer gewesen ist!"

Vom Hakenkreuz auf die Orgelempore: So wie der Cellist Ludwig Hoelscher das schon gleich am ersten Tage schaffte, so schnell schafften das nur wenige; im Lauf der Jahre aber fast alle, zumal dann, als 1949 die von den Alliierten betriebene Phase der Säuberung vorbei war.

Im Westen ging das so: Die Nazirichter rissen sich das Hakenkreuz von der Robe - und machten einfach weiter. Die Professoren tilgten die braunen Sätze aus ihren Büchern - und blieben großenteils auf ihren Lehrstühlen oder kehrten bald zu ihnen zurück. Die Beamten hängten Adolf Hitler von der Wand, gelobten einem neuen Dienstherrn die alte Treue - und verwalteten weiter. Der Tag der Befreiung war ein Tag der Befreiung von den Äußerlichkeiten des alten Regimes; man streifte die alte braune Haut ab.

Pardonisierung, Amnestie und Integration

Die Spruchkammern zur Entnazifizierung, eine gut gemeinte Erfindung der Amerikaner, taten nicht sonderlich weh und stellten ihre Tätigkeit bald wieder ein. Entnazifizierung hieß, das alte Parteibuch zu verbrennen und so zu tun, als sei man schon immer dagegen gewesen: Die vormaligen braunen NS-Volksgenossen verwandelten sich in die braven Bürger der Bundesrepublik. Die Täter erklärten sich zu Verführten, die Mitläufer machten aus sich Opfer; Straffreiheits- und Wiedereingliederungsgesetze, von allen Parteien betrieben, halfen ihnen dabei.

Vom ersten Tag an standen in der jungen Bonner Bundesrepublik die Zeichen auf Pardonisierung, Amnestie und Integration. Nie mehr wieder seitdem hat Resozialisierung so einvernehmlich und so umfassend funktioniert. Auch ein Wilhelm Hausenstein hat - in den "Pariser Erinnerungen" an seine Zeit als Adenauers Botschafter in Frankreich - den Adenauer-Staatssekretär Hans Globke, der Kommentator der Nürnberger Rassegesetze gewesen war, sehr milde beurteilt.

Die Parteien in der Bonner Republik konkurrierten um die "nach Millionen" zählenden "Verführten", wie das Eugen Gerstenmaier, CDU-Abgeordneter und ab 1954 Bundestagspräsident, formulierte; er hatte zur Widerstandsgruppe des Kreisauer Kreises gehört: Man sei nicht gewillt, so Gerstenmaier, beim "Neuaufbau des deutschen Vaterlandes" auf diese "Verführten" zu verzichten. Und als dann dieser Neuaufbau erreicht und das Wirtschaftswunder etabliert war, attestierte der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß dem Volk, "das diese wirtschaftlichen Leistungen erbracht hat", ein Recht, "von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen".

Am 3. November 1951 erschien in den Tageszeitungen folgende Agenturmeldung: "In Stadt Oldendorf, Kreis Holzminden, wurden in Anwesenheit aller Ratsmitglieder die Entnazifizierungsakten im Ofen des städtischen Gaswerks verbrannt. Der Bürgermeister wies darauf hin, dass Stadt Oldendorf als erste Stadt der Bundesrepublik einen Schlussstrich unter die gesamte Entnazifizierung ziehe. Er übergab eine dickleibige Akte mit den Fällen von etwa 400 Entnazifizierten den Flammen."

"Das mit den Juden"

Dies geschah im dritten Jahr der Bundesrepublik: Es war keine Zeit mehr für Vergangenheit, es war Zeit zum Aufbauen, und das Verdrängen und Vergessen ging damit Hand in Hand: Der Krieg war "Scheiße", und "das mit den Juden" eine Sauerei, die nicht hätte "passieren" dürfen; aber die anderen seien ja auch kaum besser gewesen, hätten schließlich die deutschen Städte zerbombt, Millionen aus der Heimat vertrieben. Krieg sei eben Krieg.

Und letztlich seien alle Opfer dieses Krieges gewesen, den, so sah man das, zwar Hitler allein angefangen hatte, aber am Ende alle verloren hatten. Und jetzt war Frieden. Jetzt galt es, die Ärmel aufzukrempeln und sich möglichst nicht um Politik zu kümmern. Das Desaster, vor dem man stand, galt auch als Folge davon, dass man sich in die Politik hatte "hineinziehen" lassen.

Für Abwendung und Flucht vor der Vergangenheit in eine geschichtslose Gegenwart fand sich in der Bundesrepublik noch ein triftiger Grund: die kommunistische Gefahr. Die westdeutsche Politik und die westdeutsche Strafjustiz warfen sich mit solcher Verbissenheit in den Kalten Krieg, dass für die Vergangenheit einfach keine Zeit blieb. In den Jahren 1950 bis 1960 waren Staatsanwaltschaften und Gerichte mit der Aburteilung von 125 000 kleinen Kommunisten der KPD beschäftigt: Unter ihnen waren sehr viele ehemalige Widerständler gegen den Nationalsozialismus.

Sie wurden vielfach von Richtern verurteilt, die schon unter Hitler gerichtet hatten. Täter urteilten also über Verfolgte, Verfolgten wurde erneut nachgestellt. Zur Verfolgung der Nazi-Verbrechen hatte diese Kalte-Kriegs-Justiz keine Lust und keine Energie: Wenn sie NS-Täter überhaupt verurteilte, dann über viele Jahre hin so, als habe es nur einen einzigen Täter, im Übrigen aber allenfalls Gehilfen gegeben. Diese Nachsicht änderte sich erst sehr viel später, erst im 21. Jahrhundert, in den allerletzten NS-Prozessen.

Der staatlich verordnete Antifaschismus der DDR

Während die frühe Bundesrepublik vor der Vergangenheit in die Gegenwart des Wirtschaftswunders flüchtete, flüchtete die DDR vor einer oft bedrückenden Gegenwart in die Geschichte. An der Seite des östlichen Befreiers, der Sowjetunion, fühlte man sich nämlich wie ein Sieger. Die DDR klinkte sich aus der gesamtschuldnerisch-deutschen Haftung für die NS-Vergangenheit aus, setzte den Widerstand gegen Hitler und den Sieg über das Dritte Reich dabei als moralisches Kapital ein. Die DDR nahm für sich in Anspruch, "der braunen Vergangenheit energischer entgegengetreten zu sein und deren Restbestände durchschlagender bereinigt zu haben als der westliche Nachbar", wie ihr dies der frühere israelische Botschafter in Bonn, Yohanan Meroz, 1986 attestierte.

Das hatte anfangs auch wirklich gestimmt - bis der staatlich verordnete Antifaschismus zum heroisch-hohlen Ritual wurde. Die SED erklärte einfach mit der Abschaffung des Monopolkapitals die Wurzel des braunen Übels für ausgerottet. Nach der Wiedervereinigung musste man freilich erleben, dass der angeblich ausgerottete Rassismus und der angeblich ausgerottete Antisemitismus nur überwintert hatten - und nun, in Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda und anderswo, gewalttätige Urständ feierten; Neonazis konnten "ausländerfreie Zonen" proklamieren.

Und die Westdeutschen, die angewidert in den Osten zeigten, vergaßen darüber nur zu gerne die Wahlerfolge rechtsextremer Parteien auch in der alten Bundesrepublik und die rechtsextremistischen Ausschreitungen und Attentate im Westen.

Das war die Lage, bevor Pegida kam - die rechtsextremistische Bewegung, die sich "Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" nennt. Das war die Lage, bis 2011 die Morde des Nationalsozialistischen Untergrunds NSU aufgedeckt wurden.

Die Achtundsechziger-Generation hat ihre Eltern geschüttelt

Zwischen der Vergangenheitsflucht der fünfziger und sechziger Jahre und dem Heute liegen viele Jahre, in denen die vielen Defizite der Vergangenheitsbewältigung eingestanden wurden und in denen nachgeholt wurde, was noch nachholbar war: Der Film "Schindlers Liste" und die Entschädigung der Zwangsarbeiter, die Rehabilitierung von verurteilten Widerstandskämpfern, die Anerkennung der zwangssterilisierten Frauen, der Homosexuellen und der Euthanasie-Geschädigten als NS-Opfer. Die Achtundsechziger-Generation hat ihre Eltern geschüttelt. Eine Wehrmachtsausstellung ist heftig diskutiert, geschlossen und wiedereröffnet worden.

1995 hat der Bundesgerichtshof ein Geständnis abgelegt und sich von seiner bisherigen Rechtsprechung distanziert: "Eine Vielzahl ehemaliger NS-Richter hätte wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Kapitalverbrechen zur Verantwortung gezogen werden müssen."

2005 wurde das Holocaust-Mahnmal in Berlin eröffnet. Es ist ein ganz besonderes Befreiungsdenkmal: Die eigene Täterschaft ist im historischen Gedächtnis der Deutschen angekommen und aufgenommen worden. Sie ist verankert im Zentrum der Hauptstadt, sie spricht aus jeder Stele des Holocaust-Mahnmals.

Die AfD hat das Land ungut verändert

Und doch - kein Gedenken ist felsenfest. Es gibt heute den Vorsitzenden einer Partei mit zweistelligen Wahlerfolgen, der die Bestialität als "Vogelschiss" in der deutschen Geschichte bezeichnet; in dieser Partei wird nicht der Holocaust, sondern das Denkmal dafür als "Schande" bezeichnet. Zum ersten Mal seit Gründung der Bundesrepublik auf dem Boden des Trümmerfelds, das die Nationalsozialisten hinterlassen haben, gibt es in allen deutschen Parlamenten eine Partei, in der auch die Hitlerei eine Heimstatt hat; es ist dies eine Partei, in der mit alten braunen Gemeinheiten kokettiert wird; gewiss nicht von allen, aber von vielen dort.

Das völkische Getöse findet in dieser Partei immer mehr Echo, und auf Versammlungen dieser Partei wird vor Begeisterung gejohlt, wenn Nazi-Verbrechen verharmlost, Juden verhöhnt, Muslime verachtet, Türken als Kameltreiber beschimpft und Gemeinheiten über Flüchtlinge gesagt werden. Abgeordnete dieser Partei fallen bei Gedenkfeiern gern dadurch auf, dass sie sich dem Gedenken entziehen, manchmal feixend, immer trampelnd selbstgerecht.

Neobrauner Ungeist

Die AfD hat das Land ungut verändert. Gewiss: Sie hat sichtbar gemacht, was vorher schon da war - Rassismus und Antisemitismus, den nur als "Bodensatz" zu bezeichnen falsch war und ist. Vieles ist jetzt nicht nur sichtbar, sondern auch sagbar geworden. So mancher, der sich vorher zähmte, tut es nicht mehr; er lässt die Sau raus. Der neobraune Ungeist hat die Netzwerke verlassen, er ist sogar in Polizeirevieren und bei der Bundeswehr präsent. Er versucht, Druck aufzubauen in Schulen, in Theatern, Vereinen - zumal in den neuen Bundesländern.

Das Sichere ist nicht sicher. Demokratie und Aufklärung, Rechtsstaatlichkeit, Achtung von Minderheiten: das alles muss man lernen, immer und immer wieder.

Es gibt eine noch viel schlimmere Pandemie als die Corona-Pandemie. Sie heißt populistischer Extremismus, sie heißt Rassismus und Nazismus. Aber auch diese Pandemie ist aufhaltbar.

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