Süddeutsche Zeitung

Prantls Blick:Wo der Zeitgeist weht

Lesezeit: 3 Min.

Es gibt in Deutschland ein kollektives ökologisches Hintergrundbewusstsein, das die Politik der nächsten Jahre prägen wird. Nötig ist ein sozialer Klimawandel. Wer propagiert ihn?

Die politische Wochenvorschau von Heribert Prantl

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Es gibt einen Gast, den jede Partei bei ihrem Parteitag am allerliebsten hat. Dieser Gast hat keine Titel, er hat keinerlei offizielle Funktion. Er wird nicht eigens begrüßt, er hat nicht einmal einen Platz in der ersten Reihe. Er hat genau genommen gar keinen Sitzplatz - und trotzdem spürt man es sofort, wenn er da ist. Dann strotzt die Partei vor Selbstbewusstsein, dann weiß sie, wofür sie steht und wofür sie streitet. Dieser Gast heißt Zeitgeist.

Genosse Zeitgeist

Bei der SPD ist es ganz lange her, fünfzig Jahre, dass der Zeitgeist gern bei ihr war. Es waren die großen Zeiten von Willy Brandt. Und dann kam 1998 der Zeitgeist nochmal zu den Sozialdemokraten - als Helmut Kohl abgewählt und Gerhard Schröder Kanzler wurde. Der Zeitgeist war eine Zeitlang Genosse.

Merkels Schmetterlingsfängerei

Zum Erfolgsgeheimnis der Angela Merkel als CDU-Chefin und Kanzlerin gehörte, dass sie nach dem Zeitgeist haschte wie Spitzwegs Schmetterlingsfänger nach den Schmetterlingen. Manchmal war sie damit ein wenig spät dran, meist kriegte sie ihn aber noch. Dem Publikum gefiel das, weil Merkel dabei so bescheiden wirkte, nicht viel Gewese aus sich machte und gleichwohl mächtiges Selbstbewusstsein ausstrahlte. Deshalb gelangen ihr auch spektakuläre Kurswechsel ziemlich unspektakulär - etwa in der Atompolitik und der Wehrpolitik, aber auch in gesellschaftspolitischen Fragen wie der Homo-Ehe. Sie entspektakelte das Spektakuläre. Das war ihre Stärke. In der Flüchtlingskrise gelang ihr das nicht gut, in der Corona-Pandemie wieder eher.

Als die Grünen am Verkrautern waren

Viele Jahre lang waren sich die Grünen sicher, dass der kritisch-aufgeklärte Zeitgeist ihr Freund ist; und das war auch so. Aber dann war diese Sicherheit auf einmal vorbei; das war vor vier Jahren, beim letzten Bundestagswahlkampf. Beim damaligen Wahlparteitag in Berlin, Spitzenkandidaten waren Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir, wurden viele grüne Delegierte vom Gefühl geplagt, dass sich der Zeitgeist von ihnen abgewendet haben könnte und sich bei der FDP des Christian Lindner wohler fühlt, der viel vom liberalen "Lebensgefühl" sprach. Die Grünen spürten Konkurrenz - sie hieß FDP. Die grüne Partei litt an Langeweile, an programmatischer Auszehrung und daran, dass sie die Stärke, die sie in den Ländern hatte, bundespolitisch nicht umsetzen konnte. Die Grünen waren dabei, zu verkrautern - so lautete das Urteil in den Medien. Aber das ist auch schon lang wieder vorbei. Der Wind des Zeitgeistes hat sich wieder gedreht.

Die öffentliche Zustimmung zu Personen und Parteien, die Abneigung gegen Personen und Parteien wechselt nämlich schnell. Das ist ein Kennzeichen der webgestützten politischen Moderne. Die Wählerinnen und Wähler werden magnetisch angezogen vom Gewese, das um Themen, Parteien und Personen gemacht wird; sie sind aber auch bald wieder gelangweilt. Auch starke Kraftfelder sind instabil geworden.

Karlsruher Wahlwerbung für die Grünen

Der Zeitgeist applaudiert heute Annalena Baerbock, der Kanzlerkandidatin der Grünen; und er macht einen Bogen um Armin Laschet und Olaf Scholz, die Kanzlerkandidaten von Union und SPD. Das große Thema nach Corona wird der Klimawandel sein, es ist ein Urthema der Grünen. Selbst das Bundesverfassungsgericht hat den Grünen mit dem spektakulären Beschluss zum Klimaschutzgesetz Hilfe geleistet. Darin finden sich Sätze, mit denen man ein grünes Regierungsprogramm schreiben könnte.

Das haben die Karlsruher Verfassungsrichter natürlich nicht gemacht, um den Grünen einen Gefallen zu tun. Sie haben es getan, weil es ein kollektives ökologisches Hintergrundbewusstsein gibt, das auch in der Verfassung und in der Verfassungsinterpretation seinen Ausdruck findet - die Sorge um den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen.

Klimaschutz ist wichtig - aber nicht alles

Was soll, was kann, was müssen die anderen Parteien, die ins Kanzleramt wollen, in so seiner Situation machen? Laschet müsste jetzt seinen Wahlkampf führen unter dem Motto: "Klimaschutz ist wichtig - soziale Sicherheit auch!" Er müsste einen sozialen Klimawandel fordern, denn es ist so: der CO₂-Ausstoß muss teurer werden, wenn das Klima besser geschützt werden soll; aber das verteuert das Leben der Menschen enorm - das gilt für die Mieten, das gilt für das Autofahren und für das Reisen.

Es kann nicht das Ziel seriöser Parteien sein, die Bekämpfung des Klimawandels zu bekämpfen; vielmehr muss der Klimawandel sozial begleitet und eingefasst werden. Das ist eigentlich ein klassisches Thema der Sozialdemokraten, also ein Thema für ihren Kanzlerkandidaten Scholz. Ob er es packt? Ob er das gut hinkriegt, ob er es überhaupt versucht? Oder gibt er der Versuchung nicht weniger Sozialdemokraten nach, möglichst noch grüner zu sein als die Grünen?

Geißler, Töpfer, Laschet

Armin Laschet, der CDU-Kandidat, ist Sohn eines Bergmanns; er weiß, was Strukturwandel heißt und wie man ihn moderieren muss. Laschet muss die ökologisch-soziale Marktwirtschaft für die CDU gar nicht erfinden. Die haben schon vor 15 Jahren Heiner Geißler, der geniale CDU-Stratege, und Klaus Töpfer propagiert, der ehemalige CDU-Bundesumweltminister, der spätere Exekutivdirektor des Umweltprogramms der Vereinten Nationen. Manche Ideen kommen spät zum Zug, aber dann, hoffentlich, gewaltig.

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