Prantls Blick:Kein rundes, ein wundes Jubiläum: Zum 72. des Grundgesetzes

Corona-Demo Markt Schwaben

Die Grundrechte sollen verhindern, dass aus der digitalen Revolution eine digitale Inquisition wird.

(Foto: Photographie Peter Hinz-Rosin)

Die Grundrechte gehören zum Besten, was den Deutschen in ihrer langen Geschichte widerfahren ist. Doch zum 72. Geburtstag gibt es kein schönes Geschenk, sondern Trojaner und Wanzen.

Die politische Wochenvorschau von Heribert Prantl

Das Grundgesetz hatte am Sonntag Geburtstag. Es wurde 72 Jahre alt. Es ist dies kein rundes, es ist ein wundes Jubiläum; das zweite in Corona-Zeiten. Es ist ein Jubiläum in einem Jahr, das damit begann, dass die Kanzlerin Grundrechte als "Privilegien" bezeichnete. Der 23. Mai, der Tag des Grundgesetzes, wurde nun begleitet von Debatten darüber, welche Bedeutung und welche Wirkung ein Corona-Impfpass für die Grundrechte hat. Wann sind welche "Lockerungen" für wen veranlasst? Ist der Impfpass eine Grundrechtszugangsberechtigung, also eine Art Eintrittskarte? Oder soll man den Pass eher als einen Grundrechtsschrankenbeseitiger betrachten?

Diese Diskussion geht stets davon aus, dass einem die Grundrechte in Corona-Zeiten nicht mehr einfach ganz voraussetzungslos zustehen. Ob sich das die Mütter und Väter des Grundgesetzes 1948/49 so vorgestellt haben? Die Grundrechte sind ja nicht zuletzt deswegen so eindrucksvoll, weil sie auf zitterndem Boden geschrieben wurden und trotzdem so gar nichts Zittriges, nichts Zaghaftes haben.

Ich wünsche mir Grundrechte, auf die sich die Bürgerinnen und Bürger verlassen können; ich wünsche mir Staatsgewalten und eine couragierte Gesellschaft, die diese Grundrechte verteidigen - gegen das Virus, gegen Entsolidarisierung, gegen Rassismus, gegen den Datensammelwahnsinn. Ich wünsche mir Grundrechte, die auf dem Weg der Gesellschaft in die digitale Welt nicht bettelnd am Wegesrand stehen müssen. Ich wünsche mir Grundrechte, die die Menschen auf diesem Weg stärken. Ich wünsche mir, dass die Grundrechte es verhindern, dass aus der digitalen Revolution eine digitale Inquisition wird. Ich wünsche mir Grundrechte, die das bleiben, was sie waren, sind und sein müssen: verlässliche Begleiter.

Der Wesensgehalt

Ich wünsche mir daher, dass spätestens nach dem Ende der Pandemie eine große Diskussion über den "Wesensgehalt" der Grundrechte beginnt. Am Schluss des Grundrechtskataloges, im Artikel 19 Absatz 2 des Grundgesetzes, heißt es nämlich: "In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden". In keinem Fall - das heißt: auch nicht in katastrophalen Zeiten.

Übertreibe ich es mit meinen Wünschen - aus verfassungspatriotischer Begeisterung und in der Sorge, dass sich Staat und Gesellschaft an eine weitreichende Beschränkung der Grundrechte gewöhnen? Das alles wünsche ich nicht mir, das wünsche ich dem Grundgesetz zum Geburtstag. Die Grundrechte des Grundgesetzes gehören zum Besten, was den Deutschen in ihrer langen Geschichte widerfahren ist. Es wäre gut, wenn das die Menschen auch in zehn, zwanzig und dreißig Jahren noch stolz sagen können.

In dieser Woche, am Mittwoch, wird der Grundrechte-Report zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland im Jahr 2021 vorgestellt. Es ist der 25. Report dieser Art, er wird herausgegeben von zehn Bürgerrechtsorganisationen. Die Beiträge dort handeln nicht nur von den Auswirkungen der Pandemiebekämpfung auf Freiheits- und Gleichheitsrechte, sondern auch von Diskriminierung und Überwachung - vom Staatstrojaner beispielsweise.

Die Verwanzung der Gesetze

Dieser Staatstrojaner ist von der Regierungskoalition schon im Jahr 2017 in der Strafprozessordnung installiert worden; die Strafverfolgungsbehörden dürfen seitdem Smartphones und Rechner hacken, um dort die Telekommunikation abzugreifen. Nun soll das auch noch den Geheimdiensten gestattet werden, Quellen-TKÜ heißt das. Bei dieser Quellen-Telekommunikationsüberwachung erlangen dann die Geheimdienste durch Trojaner Zugriff auf ein fremdes Endgerät; es wird dort eine Software installiert, die die Kommunikation schon vor der Verschlüsselung mitschneidet und an die Geheimdienste übermittelt. Whatsapp, Telegram, Signal, Threema etc., etc. werden, um die schöne alte Metapher zu gebrauchen, zum offenen Buch. Wo bleibt dann das Grundrecht auf Vertraulichkeit und Integrität von IT-Systemen, welches vom Bundesverfassungsgericht 2008 proklamiert worden ist als Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts?

Erhebliches Missbrauchspotential

Die Risiken sind spektakulär: Sie beginnen mit dem Zugriff auf die Kommunikation zwischen Nutzern und Sprachassistenten wie Alexa und Siri und sie reichen bis hin zum Mithören im Raum. Der Späh- und Lauschangriff durch das geheimdienstliche Anschalten von Computer-Mikrofonen und Computer-Kameras wird zwar nicht erlaubt, aber möglich - auch eine Online-Durchsuchung, bei der sämtliche gespeicherte Daten betrachtet werden können, also Chats, Notizen, hochgeladene Fotos.

Bei der Anhörung im Innenausschuss des Bundestags in der vergangenen Woche hat der Göttinger Staatsrechtler Benjamin Rusteberg auf "ein ganz erhebliches Missbrauchspotential" hingewiesen: "Jedem könne alles auf die Rechner gespielt werden." So ist es. Durch die Trojaner können gefälschte Beweise aufgespielt werden, irgendwelche Bilder oder in sonstiger Art kompromittierendes Material.

Der Grundrechte-Report prangert zu Recht an, dass und wie die Anbieter von Telekommunikationsdiensten gesetzlich zu Erfüllungsgehilfen von Geheimdiensten gemacht werden sollen - indem sie verpflichtet werden, bei der Installation der Spähsoftware mitzuwirken: Mit einem Update beispielsweise, das ein Nutzer oder eine Nutzerin installiert, wird der Staatstrojaner eingeschleust. Thomas Haldenwang, der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, hat die geplante Quellen-TKÜ durch die Geheimdienste vor dem Innenausschuss des Bundestags so verfochten: Der Inlandsgeheimdienst müsse "mit den Möglichkeiten, die wir haben, in der heutigen Welt ankommen". Ließe sich, so Haldenwang, mit der Quellen-TKÜ auch nur ein Anschlag verhindern, "war es die Sache schon wert".

Der untragbare Sack

Als ich das gelesen habe, ist mir ein Satz von Winfried Hassemer eingefallen. Der im Jahr 2014 verstorbene große Strafrechtsgelehrte und frühere Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts sah schon vor 15 Jahren die Gefahr, "dass der Bürger zum Ausforschungsobjekt wird". Hassemer wusste, dass Sicherheitsbedürfnisse "strukturell unstillbar" sind und dass "eine Schippe Sicherheit immer noch in den mit Kontrollen schon prall gefüllten Sack" passt - aber dass es so viele Schippen sind, dass der Sack untragbar wird, das hatte er nicht glauben wollen, bevor es dann schon zu seiner Zeit, nach 9/11, passierte. Hassemer hatte den Datenschutz dadurch zu beleben versucht, dass er den Computer zu einem "ausgelagerten Teil des Körpers" erklärte.

Die Diskussion über Grundrechtsbeschränkungen in der Corona-Zeit hat einer Argumentation wie der von Verfassungsschutzpräsident Haldenwang großen Auftrieb gegeben. Bei den Terroranschlägen hatte man trotz aller Terrorangst noch das Gefühl, dass man nicht selbst Opfer werden würde. Bei und mit Corona hat sich das geändert. Das hat die Menschen empfänglich und verführbar gemacht für fast jedwedes Versprechen von mehr Lebensschutz und Sicherheit.

Das Konzept der Prävention hat keine eingebaute Bremse; es kennt keine Verhältnismäßigkeit; es will immer mehr. Der Gier nach immer mehr Erfassung und immer mehr Überwachung und immer mehr elektronischem Zugriff muss Einhalt geboten werden.

Da ist das Bundesverfassungsgericht gefordert: Ihm liegen seit 2018 eine Reihe sehr qualifizierter Verfassungsbeschwerden vor gegen die Quellen-Telekommunikationsüberwachung, gegen Staatstrojaner und Online-Durchsuchung, wie sie 2017 für die Strafverfolgungsbehörden in der Strafprozessordnung eingeführt wurden; zuständige Berichterstatterin ist Sibylle Kessal-Wulf. Es ist unverständlich und ungut, dass die Regierungskoalition nicht die Karlsruher Entscheidung abwartet, bevor sie die umstrittenen Praktiken nun auch noch den Geheimdiensten erlaubt. Verwanzte Gesetze sind kein schönes Geschenk zum Grundgesetzgeburtstag.

Jeden Sonntag beschäftigt sich Heribert Prantl, Kolumnist und Autor der SZ, mit einem Thema, das in der kommenden Woche - und manchmal auch darüber hinaus - relevant ist. Hier können Sie "Prantls Blick" auch als wöchentlichen Newsletter bestellen - exklusiv mit seinen persönlichen Leseempfehlungen.

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