Prantls Blick:Die Magna Charta für die deutschen Arbeiter

Tag der Arbeit

Carl Legien verhandelte im November 1918 das Stinnes-Legien-Abkommen: Es ist bis heute die Basis für die Tarifautonomie.

(Foto: dpa)

Vor hundert Jahren erkämpfte der Gewerkschaftsführer Carl Legien für die Arbeiter den Acht-Stunden-Tag - damals eine Sensation.

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Der Revolutionär Kurt Eisner, ein Bilderbuch-Intellektueller, war ein Meister des friedlichen Revolutionsmanagements; über ihn habe ich in meinem Brief zum hundertsten Jubiläum der Revolution von 1918 am vergangenen Sonntag geschrieben. Heute soll von einem anderen Meister des Jahres 1918 die Rede sein - von Carl Legien, dem Gewerkschaftsführer. Er war der Gegentyp zu Eisner, er war ein sehr praktisch orientierter Mensch, ein Realpolitiker, ausgestattet mit einem herzhaften Misstrauen gegenüber den linken Parteitheoretikern. Er gehörte nicht zu denen, die doktrinäre Opposition betreiben wollten, er suchte nach einem Modus Vivendi mit und in der Gesellschaft.

Der größte politische Streik in der deutschen Geschichte

Carl Legien war der Mann, der nur sechs Tage nach dem Sturz der Monarchie mit den deutschen Großindustriellen die Magna Charta für die deutschen Arbeiter aushandelte - das November-Abkommen vom 15.11.1918. Und er war der Mann, der 16 Monate später die Weimarer Republik fürs Erste rettete. Carl Legien führte sehr entschlossen und erfolgreich den demokratischen Widerstand gegen den sogenannten Kapp-Putsch im März 1920 an.

Als ein Teil des geschlagenen Heeres gegen die junge Demokratie putschte (die Putschisten wollten die vom Versailler Vertrag angeordnete Verkleinerung der Reichswehr verhindern), als schwer bewaffnete Soldaten das Berliner Regierungsviertel besetzt hatten, als Reichspräsident Friedrich Ebert, der Kanzler und die meisten Minister schon resigniert in Richtung Süden geflohen waren, als die putschenden Offiziere und Generäle den preußischen Beamten Wolfgang Kapp als Reichskanzler eingesetzt hatten, der dann im Schutz der Maschinengewehre die gewählte Nationalversammlung für aufgelöst erklärte - da kam die ganz große Stunde des Carl Legien: Er rief den unbefristeten Generalstreik gegen den Umsturz aus. Sein Generalstreik war der größte politische Streik in der deutschen Geschichte; er legte das öffentliche Leben in Deutschland lahm, sodass die Putsch-Regierung handlungsunfähig blieb.

Nach hundert Stunden war der Putsch vorbei

Carl Legiens Generalstreik hungerte die Putschisten quasi aus. Er schaffte das, obwohl die Kommunisten sich dem Aufruf zum Generalstreit nicht anschlossen; stattdessen erklärte die KPD, das Proletariat werde "keinen Finger rühren für die demokratische Republik, die nur eine dürftige Maske der Diktatur der Bourgeoisie" sei. Legien schaffte es auch ohne die Kommunisten: Selbst ein Versuch des Putsch-Kanzlers Kapp, bei der Berliner Zentrale der Reichsbank einen von ihm unterzeichneten Scheck über zehn Million Mark einlösen zu lassen, scheiterte kläglich. Der Putsch war nach hundert Stunden wieder vorbei, die Weimarer Republik war fürs erste gerettet.

Die Weimarer Republik - kürzer als die Kanzlerschaft von Helmut Kohl

Es war dies eine Republik, die in kurzer Zeit ungeheuer viel aushalten musste - putschende Militärs, eine irrsinnige Inflation, hasserfüllt blutige Auseinandersetzungen zwischen Rechts- und Linksradikalen. Die erste deutsche Demokratie hatte es unglaublich schwer, und sie hatte nicht viel Zeit. Die Weimarer Republik war kürzer als die Regierungszeit von Helmut Kohl; sie war nur wenig länger als die bisherige Kanzlerschaft Angela Merkels, und sie war nur doppelt so lang wie die von Gerhard Schröder. Carl Legien war einer der wichtigsten Menschen der ersten Stunde in dieser Weimarer Republik, ein nüchtern denkender Stratege.

Die große Politik war Carl Legien nicht in die Wiege gelegt: Er war Waisenkind, aufgewachsen in einem Waisenhaus im pommerschen Thorn. Er lernte, wie August Bebel, die Drechslerei, war Drechslergeselle in Berlin, Frankfurt und Köln. 1890, knapp dreißigjährig, wurde er Vorsitzender der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands; er ist damit so eine Art Urahn der DGB-Vorsitzenden von heute. Die Gewerkschaften waren damals zersplittert, sie litten unter internen Streitigkeiten; allein im Baugewerbe gab es je eigene Gewerkschaften für Maurer, Zimmerleute, Maler, Steinmetze, Stukkateure, Bautischler, Tapezierer, Gipser, Erdarbeiter und Baggerführer. Aus diesen Krümelverbänden unter den Beschwernissen der Bismarckschen Anti-Sozialistengesetze eine schlagkräftige kollektive Interessenvertretung zu machen: das war die Aufgabe von Carl Legien. Er etablierte die Gewerkschaftsbewegung als politisch gleichberechtigte Kraft neben der SPD. Das fuchste den SPD-Vorsitzenden August Bebel schon 1894 so, dass er ihn als "Mephisto" titulierte.

Der Mephisto und der Finsterling

Dieser angebliche Mephisto war also nun vor hundert Jahren einer der entschlossensten Akteure nach der Ausrufung der Republik. Carl Legien verhandelte mit den Großindustriellen unter Hugo Stinnes den großen Zukunftspakt für die Arbeiter, das Stinnes-Legien-Abkommen vom 15. November 1918. Es ist bis heute die Basis für die Tarifautonomie, es ist bis heute eine Grundlage für die soziale Marktwirtschaft, das Fundament für den Erfolg des deutschen Wirtschaftsmodells.

Hugo Stinnes, der Verhandlungspartner von Carl Legien, war einer der wichtigsten Industriellen Deutschlands. Er war eine eher finstere Gestalt, er gehörte zu den ersten, die im Ersten Weltkrieg Zwangsarbeiter ins Reich verschleppten, er war ein Demokratieverächter, der die Volksherrschaft allenfalls als notwendiges Übel betrachtete. 1923 nannte ihn das Magazin Time den "neuen Kaiser von Deutschland".

Mit diesem Mann also handelte Carl Legien ein Abkommen aus, das November-Abkommen, das vieles, fast alles brachte, was sich Gewerkschaften und Arbeiter bisher allenfalls erträumt hatten: die Anerkennung der Gewerkschaften als berufene Vertreter der Arbeiterschaft, die Koalitionsfreiheit, die Anerkennung von Tarifverträgen, die Einsetzung von Arbeiterausschüssen in allen Betrieben mit mindestens fünfzig Beschäftigten; das waren die Vorgänger der Betriebsräte. Und schließlich noch eine Sensation: die Einführung des Acht-Stunden-Tags bei vollem Lohnausgleich.

Auf Verstaatlichung verzichtet

Das alles bekamen Legien, die Arbeiter und die Gewerkschaften natürlich nicht umsonst. Die Gewerkschaften verzichteten dafür auf die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien. Das stand zwar nicht ausdrücklich im Abkommen vom 15. November 1918, das war aber Geschäftsgrundlage, wie Michael Kittner, emeritierter Professor für Wirtschafts- und Arbeitsrecht und ehemaliger Justitiar der IG Metall, analysiert hat. Die Gewerkschaften akzeptierten "die Fortexistenz der Unternehmer als privatwirtschaftlich tätige Wirtschaftssubjekte"; sie akzeptierten die kapitalistische Wirtschaftsordnung - sozialstaatlich eingehegt.

Und die Industriellen akzeptierten nach dem Motto "Schlimmeres verhüten" nun Tarifverträge und was sonst noch so daran hing an Arbeiterrechten. Das November-Abkommen sicherte den Gewerkschaften auch wieder Einfluss und Macht unter den Arbeitern. Gegen Kriegsende hin hatten die Gewerkschaften die Kontrolle in den Betrieben mehr und mehr verloren, weil sich dort gewerkschaftsunabhängige Arbeiterräte gebildet hatten. Die Linie, gegen den Räte-Radikalismus und für eine engagierte Sozialpolitik zu kämpfen, wurde auf dem Kongress der freien Gewerkschaften (die Delegierten repräsentierten fast fünf Millionen Mitglieder) Mitte 1919 mit großer Mehrheit gebilligt.

Carl Legien starb Ende 1920, nur wenige Monate nach dem von ihm erfolgreich bekämpften Kapp-Putsch. Sein Grab ist auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde in Berlin. Er gehört zu den Heldinnen und Helden von 1918.

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