Süddeutsche Zeitung

Prantls Blick:Das kranke Chamäleon

Einst war die FDP Königsmacher und Moderator im politischen Wandel der alten Bundesrepublik. Heute fehlt den Liberalen der große Schwung.

Die politische Wochenvorschau von Heribert Prantl

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Von den 133 Arten und Unterarten des Chamäleons leben die meisten in Afrika, einige im südlichen Spanien, in Indien, Ceylon und Madagaskar. So steht es im Lexikon. Aber hier ist es nicht ganz auf dem aktuellen Stand. Die wichtigste und erfolgreichste Chamäleon-Art ist nämlich nicht aufgeführt: Sie ist seit nun genau 70 Jahren in Deutschland zu Hause und heißt Chamaeleon politicon, also FDP. Mit dieser Ergänzung stimmt das Lexikon wieder, denn es fährt ganz richtig fort: Das Vermögen, die Farbe zu wechseln, "beruht auf Erregungszuständen infolge Wohlbefindens, Licht, Wärme und Kälte oder auch Hunger, Angst und Krankheit". Solche Erregungszustände hat die FDP in ihrer 70-jährigen Geschichte immer wieder erlebt - innere Wallungen, Verstörung, Verwirrung, Verzweiflung, aber auch Euphorie. Den Scherz mit dem Chamäleon FDP habe ich vor 20 Jahren in einem Leitartikel zum Dreikönigsparteitag gemacht - er stimmt immer noch, und ich widme ihn der FDP zum 70. Geburtstag, weil sie sich heute, wenn es ihr kalt wird, noch immer, wie schon vor zwanzig Jahren, an den Grünen reibt.

Warum das Wort "liberal" nicht im Parteinamen steht

Vor genau 70 Jahren wurde Theodor Heuss, der spätere Bundespräsident, zum Vorsitzenden der damals neugegründeten FDP gewählt. Die neue "Gesamtpartei" der Liberalen "für ganz Deutschland mit Ausnahme der russischen Zone" gab sich den Namen "Freie Demokratische Partei". Das Wort "liberal" wurde im neuen Parteinamen absichtsvoll vermieden, weil man sich von der liberalen Partei "in der Ostzone" abgrenzen und distanzieren wollte; die hatte sich den Namen "Liberaldemokratische Partei" gegeben. In seiner ersten Kundgebung als Vorsitzender beschrieb Heuss die FDP so: Sie sei ein "Gesinnungsverband" von Männern und Frauen, die "altmodisch und jung genug" seien, den Glauben an die Freiheit als ihren inneren Besitz festzuhalten. Zu den historisch bedeutenden innerparteilichen Kraftakten gehört es, dass die Unterwanderung der Partei von rechts außen verhindert wurde: In den frühen fünfziger Jahren wollten alte Nationalsozialisten die Partei an sich reißen - zuvor schon hatte die FDP im Bundestag gegen die Entnazifizierungsgesetze gestimmt. Und bis hinein in die neunziger Jahre gab es Versuche von Nationalliberalen, den Kurs der Partei scharf nach rechts zu korrigieren. Der letzte Anlauf, jener von Alexander von Stahl, scheiterte 1998.

Die Geschichte einer staatstragenden Partei

Vor 70 Jahren: Es begann in Heppenheim an der Bergstraße. Mit dem Gründungstag dort, es war an einem zweiten Adventswochenende im Dezember, begann eine ziemlich glorreiche Geschichte. Die FDP wurde zu einer Partei, ohne die nichts ging in der alten Hauptstadt Bonn. Wer immer regieren wollte, der brauchte die Liberalen; erst war es die Union, dann die SPD. Diese Geschichte einer wahrhaft staatstragenden Partei endete 37 Jahre später, wieder im Dezember - am 12. Dezember 1985 um 16 Uhr und zwei Minuten: Damals wurde Joschka Fischer vom hessischen SPD-Ministerpräsidenten Holger Börner als erster grüner Minister in Deutschland vereidigt; mit diesem Turnschuh-Event endet die Rolle der FDP als Königsmacher-Partei. Die alte bundesrepublikanische Gleichung ("Eine große Volkspartei plus FDP = Regierung") stimmt seitdem nicht mehr. Ein Alleinstellungsmerkmal der FDP ist damit verschwunden. Und ihr gelang es auch nicht mehr, den Verlust ihrer Rolle als exklusive Mehrheitsbeschafferin programmatisch zu kompensieren - im Gegenteil: Das Progamm der FDP wurde nicht breiter, sondern enger.

Spaltung durch eine Wanze

Dafür steht wiederum ein Dezembertag, es war im Jahr 1995: Damals wurde die Partei von einer Wanze gespalten. Eine Mehrheit der Parteimitglieder entschied sich für den großen Lauschangriff, also für die Einschränkung des Grundrechts, der Unverletzlichkeit der Wohnung - und damit gegen die großen rechtsstaatlichen Traditionen der Partei, für die Namen wie der von Thomas Dehler stehen. Er war der erste Justizminister der Bundesrepublik. Seine liberale Nachfahrin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Justizministerin im Kabinett Kohl, trat zurück; die Rechtsstaatsliberalen der FDP gingen in den Austrag. Sie feiern ihre Erfolge seitdem nicht mehr in ihrer Partei, sondern beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, wo die liberalen Altvorderen Gerhart Baum und Burkhard Hirsch mit Verfassungsbeschwerden gegen die Bundessicherheitsgesetze vorgehen.

Wenn man die Geschichte der Freien Demokraten in den ersten 40 Jahren der Bundesrepublik als Chamäleon-Geschichte beschreibt, ist das nicht die ganze Wahrheit. Zur Wahrheit gehört auch: Die FDP war der Moderator im politischen Wandel der alten Bundesrepublik. In den konservativen Regierungen hat sie den Konservativismus, und in den sozialdemokratischen Regierungen den Sozialismus, gebremst. Jähe politische Umbrüche hat es in der alten Bundesrepublik nicht gegeben, weil es die FDP gab. Die Liberalen waren in der alten Bundesrepublik, zuletzt immer schwächer, eine Art Opposition in der Regierung. Sie haben den Versuch der jeweiligen Dogmatiker der großen Parteien verhindert, die reine Lehre in Politik zu übersetzen.

Die Wandlungen der FDP

Die Geschichte der FDP ist also eine Geschichte des politischen Wechsels. Der erste Wechsel datiert vom Jahr 1969, als sich die FDP in eine linksliberale Partei zu verwandeln begann, die sich dann unter Anleitung von Generalsekretär Karl-Hermann Flach ein gesellschaftspolitisches Programm gab, wie es heute bei der SPD revolutionär wäre: Die FDP bekannte sich 1971 im Freiburger Programm zur Umverteilung des Produktivvermögens, zur Eindämmung der Spekulation und zu einer "Art Parität" von Kapital und Arbeit. Stratege Flach verfolgte "nur ein Ziel, die Machtübernahme von Barzel-Strauß zu verhindern". Stattdessen machte dann der FDP-Außenminister Scheel zusammen mit Willy Brandt die neue Ostpolitik.

1982 gelang der FDP, ganz Chamäleon, die komplette Rückverwandlung - sie bildete eine Regierung mit der Union von Helmut Kohl. Sodann aber passierte etwas Sonderbares: Es gab keinen Versuch des Farbenwechsels mehr. Stattdessen tilgte die FDP die verbliebenen alten Farbtupfer. Ein krankes Chamäleon? Auf dem Karlsruher Parteitag von 1996 inszenierte der damalige Generalsekretär und spätere Parteichef Westerwelle den marktradikalen "Entwurf für die liberale Bürgergesellschaft" als Manifest eines neuen Zeitalters. Die FDP predigte von da an Entstaatlichung, Privatisierung und Deregulierung mit solcher Verve, dass sich die großen Parteien davon anstecken ließen: Von 2003 an druckten Union und SPD die neoliberalen Programme, die bis dahin exklusiv von der der FDP herausgegeben worden waren. Das tat ihnen nicht gut - und der FDP auch nicht.

Christian Lindners historischer Fehler

Die FDP flog aus dem Bundestag: Zum ersten Mal in der Geschichte der Republik war sie nach einer sehr holprigen Koalition (von 2009 bis 2013) mit der Merkel-CDU nicht mehr im Bundestag vertreten, vier harte Jahre lang, von 2013 bis 2017. Dem Vorsitzenden Christian Lindner gelang es dann, zumal im Wahlkampf von 2017, die FDP wunderbar zu regenerieren und zu vitalisieren. Aber dann machte er bei den Verhandlungen zu einer Jamaika-Koalition mit der Union und den Grünen einen historischen Fehler, welcher der FDP bis heute nachhängt: Er ließ die Verhandlungen platzen. Seitdem fehlt der FDP der große Schwung, und Lindner wirkt ein wenig angebröckelt.

Die FDP hatte den Mut nicht. Hat ihn nun die SPD?

Über Sein und Werden, Sinn und Aufgabe der FDP hat Angela Merkel im Dezember 2012, es war auf dem CDU-Parteitag in Dresden, ihre eigene Theorie verkündet. Sie meinte, der liebe Gott habe die FDP "vielleicht nur erschaffen, um uns zu prüfen". Derzeit, am Ende des Jahres 2018 also, ist es aber eher so, dass die SPD glaubt, der liebe Gott habe die CDU/CSU erschaffen, um die SPD zu prüfen. Was daraus wird, ob und wann die geprüfte SPD das Herz und den Mut hat, die Koalition mit der Union zu verlassen - das wird das große politische Thema des Jahres 2019 werden.

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