Prantls Blick:Ein Urteil über Merkels Flüchtlingspolitik

Prantls Blick: Flüchtlinge bei ihrer Ankunft im griechischen Lesbos, Spätsommer 2015.

Flüchtlinge bei ihrer Ankunft im griechischen Lesbos, Spätsommer 2015.

(Foto: AFP)

Kommende Woche befindet der Europäische Gerichtshof darüber, ob es rechtens war im Spätsommer 2015 die Grenzen zu öffnen. Die Richter könnten den Grundstein für eine solidarische Flüchtlingspolitik legen.

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Am kommenden Mittwoch entscheidet der Europäische Gerichtshof über Angela Merkel. Nein, das Gericht entscheidet nicht darüber, ob sie Kanzlerin bleibt. Darüber befinden die deutschen Wählerinnen und Wähler am 24. September. Aber die Europa-Richter in Luxemburg entscheiden diese Bundestagswahl mit: Sie urteilen nämlich über Merkels Flüchtlingspolitik. Es ist ein Urteil zu erwarten, das in die Mitte der europäischen Flüchtlingspolitik zielt: Was ist legal, was ist illegal? Wer handelt legal? Wer ist legal, und wer ist illegal? Die Aktenzeichen in der Rechtssache C-490/16 und in der Rechtssache C-646/16 sind nicht nur juristische Aktenzeichen, sie sind historische Aktenzeichen.

Über welche Flüchtlingspolitik Merkels wird geurteilt? Es gibt ja zwei sehr verschiedene Merkelsche Flüchtlingspolitiken - Flüchtlingspolitik 1 und Flüchtlingspolitik 2. Flüchtlingspolitik 1 war die aufnehmende Politik vom Spätsommer 2015. Flüchtlingspolitik 2 war und ist die abweisende seit dem Frühjahr 2016. Nun, die Europarichter entscheiden nicht über die Flüchtlingspolitik 2, also nicht über das sehr verschärfte deutsche Asylrecht, auch nicht über die Ruck-Zuck-Abschiebungen in den vergangenen Monaten nach Afghanistan; sie urteilen auch nicht über die Aufnahme- und Abschiebezentren in Bayern, in denen nach dem Willen der CSU die Flüchtlinge künftig bis zu zwei Jahre lang kaserniert werden, Kinder inklusive, Integration exklusive.

Die Richter entscheiden über Merkels Flüchtlingspolitik vom Spätsommer 2015, also über die Flüchtlingspolitik 1 - über die Politik, gegen die Horst Seehofer, der CSU-Chef und bayerische Ministerpräsident, und die AfD gleichermaßen Sturm gelaufen sind. Die Richter entscheiden darüber, ob die "Wir schaffen das!"-Politik der Kanzlerin im Einklang stand mit dem Europarecht. Sie entscheiden darüber, ob die Grenzöffnung damals rechtmäßig oder rechtswidrig war. Sie entscheiden darüber, ob es zulässig, ja womöglich sogar geboten war, die Flüchtlinge, die in Ungarn im Dreck lagen, nach Deutschland einreisen zu lassen.

Das Europa-Gericht in Luxemburg entscheidet also über einen Streit, der so giftig war wie kaum ein anderer in der Geschichte der Bundesrepublik: CSU-Chef Seehofer hat der CDU-Chefin und Kanzlerin Merkel eineinhalb Jahre lang der Grenzöffnung wegen Rechts- und Verfassungsbruch vorgeworfen und ein verfassungsrechtliches Gutachten schreiben lassen, welches das bestätigen sollte. Von einer "Herrschaft des Unrechts" hat Seehofer gesprochen - und mit diesem Wort, das sonst oft für das DDR-Regime gebraucht wird, die Flüchtlingsaufnahmepolitik Merkels gemeint.

Nach Meinung von Eleanor Sharpston liegt Seehofer juristisch falsch, sein Gutachter, der frühere Verfassungsrichter di Fabio, auch. Die Britin ist nun nicht irgendwer, sie ist nicht irgendeine Juristin, sie ist die zuständige europäische Generalanwältin. Die Aufnahme der Flüchtlinge im Spätsommer war, so ihr Plädoyer, eindeutig rechtens. In ihrem Schlussantrag vom 8. Juni 2017 spricht sie von ganz außergewöhnlichen Umständen, von der größten Massenbewegung von Personen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg; sie spricht davon, dass der Gerichtshof in einer "noch nie dagewesenen, durch die Flüchtlingskrise entstandenen Sachlage" eine angepasste rechtliche Lösung zu finden habe. Und diese Lösung sieht für die Generalanwältin so aus, dass eine sture Anwendung der sogenannten Dublin-III-Verordnung nicht infrage kommen könne. Die EU-Staaten, so die Generalanwältin im Ergebnis, blieben souverän darin, bei außergewöhnlichen Umständen Flüchtlinge abweichend von "Dublin" einreisen zu lassen.

Die europäische Generalanwältin hatte - auf Vorlage der dortigen obersten Gerichte - Fälle zu begutachten, in denen Flüchtlinge 2015 in Slowenien und Österreich Asyl beantragten, obwohl sie zuerst in Griechenland und Kroatien europäischen Boden betreten hatten. Nach der Dublin-III-Verordnung ist eigentlich immer der Staat für die Asylprüfung zuständig, in dem ein Flüchtling zuerst ankommt. Durch die unglaublich hohe Zahl von Flüchtlingen im Jahr 2015, so die Generalanwältin, hätten die EU-Grenzländer die Flüchtlingsverfahren aber unmöglich allein bewältigen können. Die Generalanwältin legte daher den Wortlaut, den Kontext und die Zwecke der Dublin-Verordnung so aus, dass es sich bei der Einreise der Flüchtlinge nicht um einen illegalen Grenzübertritt gehandelt habe. Sie erklärte, dass nicht erst Griechenland, dann Kroatien (Anmerkung: und heute Italien!) überfüllt werden dürfen, bevor andere europäische Staaten für die Flüchtlingsverfahren zuständig werden.

Sharpston erklärte daher in den zu entscheidenden Fällen Österreich und Slowenien für zuständig - mit einer Begründung, die erstens die Merkelsche Flüchtlingspolitik vom Spätsommer 2015 ins Recht setzt und die sich zweitens, was die aktuelle Flüchtlingssituation betrifft, an die Seite Italiens stellt, das derzeit die hohen Flüchtlingszahlen nicht mehr bewältigen kann.

Der Europäische Gerichtshof ist nicht an die Bewertung seiner Generalanwälte gebunden; er folgt dieser Bewertung aber sehr häufig. Wenn er dies in diesem Fall tut, erhält die Flüchtlingspolitik Angela Merkels vom Spätsommer den höchstrichterlichen Segen. Sie erhält einen Stempel auf dem steht: Die Grenzöffnung und die Aufnahme der schutzsuchenden Flüchtlinge entspricht der Herrschaft des Rechts. Dass die faktische Umsetzung dieser Flüchtlingsaufnahmepolitik monatelang desaströs war - dazu wird das Gericht freilich nichts sagen. Das gehört nicht zu den Punkten, die es zu prüfen hat. Wenn es gut geht, wenn die Richter sich klug entscheiden, wird aber ihr Urteil die Basis einer neuen Flüchtlingspolitik in Europa sein können - und das Ende einer EU-Flüchtlingspolitik, die die Bewältigung der Probleme einfach auf die Staaten an den europäischen Außengrenzen abwälzen wollte.

Mir kommt, ein paar Tage vor dem großen europäischen Urteil, ein Tag im November 1995 in den Sinn. Ich war beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe - bei der mündlichen Verhandlung über das damals neue, eingeschränkte deutsche Asylgrundrecht. Der damalige Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) stellte sich den sehr kritischen Fragen der Verfassungsrichter. Er leugnete die Schwächen und die eklatanten Schutzlücken des neuen Asylrechts nicht lange, beschwor aber die Verfassungsrichter, diese Mängel zu akzeptieren - sie seien quasi ein Opfer, das Deutschland für Europa bringen müsse. Kanther schwärmte von einem europäischen Konzept, von einem großen europäischen Verantwortungszusammenhang. Und das neue deutsche Asylrecht sei ein Teil dieses Konzepts, dessen schützende Wirkung sich leider noch nicht entfaltet habe. Kanther bat die Richter, diesen Entfaltungsprozess nicht zu stören. Die Karlsruher Richter haben sich damals beschwatzen und einwickeln lassen. Es entfaltete sich dann tatsächlich jahrzehntelang etwas ganz anderes: ein System der Unverantwortlichkeit, bei dem jeder seine Hände in Unschuld wusch und den Flüchtling möglichst schnell weiterschob.

Wenn Europa Glück hat, setzen die Richter in Luxemburg in der kommenden Woche diesem System der Unverantwortlichkeit ein Ende. Deshalb widme ich diesem Thema den ganzen Newsletter. Wenn Europa Glück hat, legen die Richter in Europa den Grundstein für eine solidarische Flüchtlingspolitik.

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