Prantls Blick:Die Welt wird obdachlos

Überschwemmungen in Indien

Folgen des Klimawandels: Starke Monsunregen haben erst im August zu Erdrutschen und Überflutungen im Norden Indiens (Bild), im Süden Nepals und Bangladesch geführt.

(Foto: dpa)

Dürren, versalzenes Wasser, soziale Katastrophen: Der Klimawandel zwingt mehr Menschen zur Flucht als alle Kriege zusammen. Doch es genügt nicht, anklagend auf US-Präsident Trump zu zeigen.

Die politische Wochenvorschau von Heribert Prantl

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Wenn Sie zu mir ins Büro kommen, sehen Sie gleich links von der Tür auf einer weißen Stele eine Skulptur aus dunklem, gebranntem Ton. Es ist ein überlebensgroßer Männerkopf: eindrucksvolles, ausdrucksstarkes zerfurchtes Antlitz, mächtiger Bart. Manche Besucher meinen, Karl Marx zu erkennen. Es ist aber nicht Marx, es ist Jürgen. Jürgen war ein Obdachloser in Berlin, der Künstler Harald Birck hat ihn vor Jahren porträtiert. Birck ist ein Bildhauer, der vor zehn Jahren in Zusammenarbeit mit der Berliner Stadtmission Porträtbüsten von obdachlosen Menschen gefertigt und sie dann in Ausstellungen präsentiert hat, auf Augenhöhe mit den Besuchern und auf Augenhöhe mit den Porträtbüsten von berühmten Persönlichkeiten. Die letzte der historischen Berühmtheiten, die Birck porträtiert hat, war Martin Luther. Für Birck hat die gemeinsame Ausstellung von Berühmtheiten und von Leuten, die man allenfalls mit dem Vornamen kennt, einen tiefen Sinn: Jeder hat ein Gesicht; und das Gesicht der obdachlosen Menschen ist oft bewegender als das, das zu einem berühmten Nachnamen gehört. Die Betrachter können rätseln, ob sie den Detlef aus der Suppenküche oder einen Philosophen der Aufklärung vor sich haben.

Ich habe mir den Kopf von Jürgen ins Büro gestellt, weil es gut ist, sich daran zu erinnern, dass es Leute gibt, die sich die Süddeutsche Zeitung nicht leisten können und die es notgedrungen eher mit alten Zeitungen zu tun haben - als Unterlage und gegen die Kälte. Jürgen hat in Berlin unter den Brücken gewohnt, er war Bergarbeiter in der DDR gewesen, Familie, zwei Töchter. Ein furchtbarer Verkehrsunfall seiner Frau hatte ihn aus dem geordneten Leben geworfen; sie war bei dem Unfall verbrannt. Er wurde, wie er es seinem Porträtisten erzählte, "ein freier Vogel", hat immer versucht, "ordentlich" zu wohnen, es gelang ihm aber nicht mehr. Am Schluss war es so, dass Jürgen wirklich eine gute Unterkunft hatte und einen vollen Kühlschrank, wie er stolz erzählte. Aber er hat nichts mehr gegessen. Er starb mit 58. Und zuletzt, in seiner letzten Wohnung hatte er sich gefühlt "wie der Indianer im Reservat".

Wenn Meeresspiegel ansteigen, dann verschwinden Inseln

Ich habe auf den Porträt-Kopf von Jürgen geschaut, als ich in den vergangenen Tagen über die Weltklimakonferenz nachdachte, die am Montag in Bonn beginnt. Bis zum 17. November treffen sich Delegierte aus 196 Staaten sowie Vertreter von 500 Nichtregierungsorganisationen und mehr als tausend Journalisten, insgesamt 25 000 Teilnehmer zu einer der größten Konferenzen, die je in Deutschland stattgefunden haben. Jürgen hätte wahrscheinlich gesagt: Gegen Erderwärmung habe er nichts, ihn habe es als "freier Vogel" in Berlin doch manchmal ziemlich säuisch gefroren. Aber Jürgen war nicht blöd. Er wusste um die Problematik; er wusste davon, was Erderwärmung und Klimawandel anrichten: Wenn Gletscher schmelzen und Meeresspiegel ansteigen, dann verschwinden Inseln wie die Fidschi-Inseln, dann werden immer mehr Regionen in Afrika und Asien unbewohnbar. Die Welt wird immer mehr obdachlos - das ist die Folge des Klimawandels. Dürren, versalzenes Wasser, soziale Katastrophen.

In Äthiopien bringt der Klimawandel Millionen Kaffee-Kleinbauern in Not. Sie können nur überleben, wenn ihnen der Umzug in hohe Lagen gelingt. Ein Bericht des Internal Displacement Monitoring Centre (eine 1998 gegründete internationale nichtstaatliche Organisation) geht davon aus, dass klima- und wetterbedingte Katastrophen - Hitzewellen, Stürme, Dürren, Überschwemmungen - im Jahr 2016 23,5 Millionen Menschen vertrieben haben. Der Klimawandel zwingt mehr Menschen zur Flucht als alle Kriege zusammen. Er verursacht auch Kriege um Ressourcen. Das ist die Situation zum Beginn der Weltklimakonferenz in Bonn. Die Weltklimakonferenz ist eine Fluchtursachen-Bekämpfungskonferenz. Sie ist eine Konferenz gegen globale Obdachlosigkeit.

Es genügt da nicht, mit anklagendem Finger auf Donald Trump zu zeigen und sich darüber zu mokieren, wie der 45. US-Präsident den Klimawandel leugnet. Deutschland wird, wie es aussieht, sein Ziel, den Ausstoß von Klimagasen bis 2020 um vierzig Prozent zu senken, drastisch verfehlen. Im Bereich Straßenverkehr sind die Emissionen in den vergangen 35 Jahren kaum zurückgegangen. Deshalb sind die Verhandlungen der möglichen Partner für eine Jamaika-Koalition, die in Berlin parallel zur Weltklimakonferenz in Bonn weitergehen, so wichtig. Und deshalb ist es so merkwürdig, wenn FDP-Chef Lindner per Interview apodiktisch erklärt, dass es "mit der FDP ... keine Fahrverbote" für Diesel-PKW geben wird. Und die Luft, so Lindner, sei bei uns ja "schon so gut". Solche Sätze haben schon fast trumpische Qualität.

In der Literatur ist Obdachlosigkeit eine schöne Angelegenheit

Der Porträt-Kopf vom Obdachlosen Jürgen, so dachte ich mir beim Sinnieren über die Klimakonferenz, ist eine Anklage dagegen, wie fahrlässig unernst mit dem Thema Obdachlosigkeit umgegangen wird - mit der Obdachlosigkeit der Menschen und der Obdachlosigkeit der Welt; sie wird entweder verharmlost oder es wird so getan, als handele es sich um ein unabwendbares Schicksal.

Das hat Tradition. In der Literatur ist Obdachlosigkeit eine schöne Angelegenheit. Die Obdachlosen heißen dort Bettler. Der Bettler gehört Jahrhunderte lang zu den urigen Hauptpersonen der Komödie, und in Liedern und Balladen des 19. Jahrhunderts ist es so, dass man geradezu neidisch wird, wenn man kein Bettler oder Vagabund ist. Da wird das freie Bettlerleben gelobt und da macht man sich lustig über die Reichen und die Könige, mit denen sie angeblich nicht tauschen möchten, da wird die Freiheit und Unabhängigkeit gepriesen und das lustige Leben im Walde und auf der Landstraße besungen. Betteln ist angeblich schön. Und wenn es einmal nicht so schön ist, dann ist es wenigstens lehrreich: Dann sitzt der gestürzte Feldherr, geblendet, auf einem Platz in Byzanz und bettelt. Und überhaupt muss man immer damit rechnen, dass sich im Gewand des Bettlers ein heimkehrender Odysseus, ein Gott oder ein König auf Recherche verbirgt. So ist es in Friedrich Dürrenmatts "Ein Engel kommt nach Babylon". Da kontrolliert der König Nebukadnezar in Bettlerkleidern seinen Staat. So eine Kontrolle täte vielleicht der Weltklimakonferenz in Bonn und den Koalitionsgesprächen in Berlin ganz gut.

Das Klima braucht Kümmerer - es braucht Kümmerer, wie Joachim Ritzkowsky einer war. Dieser Joachim Ritzkowksky war kein Bettler, kein Obdachloser, aber einer, der sie vielleicht besser kannte als sie sich selbst. Er war ein Pfarrer für Obdachlose. Und als er damals 52 Jahre alt geworden war, hat er aufgeschrieben, was er erlebte. Es war ein Bericht über das "Sterben auf Berlins Straßen", von Menschen, die "völlig von Tieren zerfressen" waren - und von einer Bürokratie, die ohne Gnade mit den Obdachlosen umging.

Ritzkowsky weigerte sich, den Alkohol in den Obdachlosen-Einrichtungen zu verbieten. Er legte sich mit der Deutschen Bahn an, die Obdachlose aus den Bahnhöfen vertreibt. Am meisten Aufsehen aber erregte er, als er mit der Justiz aneinander rasselte. Ritzkowsky hatte einem Obdachlosen einen Wohnsitz in seiner Kirche bescheinigt, damit der einen Personalausweis bekommen konnte, und wurde dafür bestraft. Ritzkowskys letztes Projekt war ein Grab, das dann auch sein Grab wurde. "Obdachlose werden am Ende möglichst billig entsorgt", hatte er festgestellt: "Kein Stein, keine Tafel, auf denen der Name des Gestorbenen zu lesen ist, erinnern an den Menschen, der starb". Er hat das geändert, hat einen Ort im Friedhof geschaffen, den er "ein Grab mit vielen Namen" genannt hat. Jetzt liegt er selber dort.

Die Welt braucht Kümmerer wie Joachim Ritzkowsky einer war. Vielleicht entdecken wir in dieser Woche auch den Kümmerer in uns selbst.

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