Prantls Blick:Die besten deutschen Tage

Gedenktag 17. Juni

Demonstranten werfen am 17. Juni 1953 in Berlin mit Steinen nach russischen Panzern.

(Foto: dpa)

Warum der 17. Juni wieder ein Feiertag werden muss: Der deutsche Widerstand braucht einen Tag des Gedenkens. Es geht um einen Markstein im europäischen Gründungsmythos.

Die politische Wochenvorschau von Heribert Prantl

Jeden Sonntag beschäftigt sich Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion und Ressortleiter Meinung der SZ, mit einem Thema, das in der kommenden Woche - und manchmal auch darüber hinaus - relevant ist. Hier können Sie "Prantls Blick" auch als wöchentlichen Newsletter bestellen - exklusiv mit seinen persönlichen Leseempfehlungen.

"Wir wollen freie Menschen sein": Das war der Ruf der Aufständischen von 1953. Vor 65 Jahren, am 17. Juni 1953, wagten eine Million Menschen in 700 Orten der DDR den Aufstand. Arbeiterklasse gegen den Arbeiterstaat. Es ging erst gegen die gestiegene Arbeitsbelastung, dann gegen die miesen Lebensverhältnisse, schließlich um freie Wahlen und gegen die SED.

Die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht

Sebastian Haffner, der große Publizist, schrieb vier Tage später im britischen Observer: "Ein totalitäres Regime, fast vier Jahr lang im vollen Besitz aller Macht und Mittel, die eine moderne Diktatur braucht, war binnen nicht einmal zwölf Stunden zu vollkommener Machtlosigkeit verdammt und gezwungen, hinter Panzern einer fremden Armee Schutz zu suchen. Und so weit ist es nicht etwa durch eine innere Spaltung oder eine bewaffnete Verschwörung in seiner Mitte gekommen, sondern durch einen spontanen Volksaufstand im klassisch-revolutionären Stil von 1789 und 1848."

1789 steht für die Französische Revolution und die Abschaffung des feudalistisch-absolutistischen Ständestaats in Frankreich. 1848 steht für die gescheiterte demokratische Revolution in Deutschland, für die Erhebung gegen die Fürsten, für das erste deutsche Parlament in der Frankfurter Paulskirche. Haffner hat den revolutionären Volksaufstand zu Recht in diese Reihe gestellt, auch wenn die russischen Panzer den Aufstand schnell und brutal niederwalzten.

Die Kinder des 17. Juni

Es gilt hier der Satz von Václav Havel, dem tschechoslowakischen Menschenrechtler und späteren Präsidenten: "Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht." Der 17. Juni 1953 ging nicht gut aus. Erst der nächste Aufstand, der Aufstand der Kinder des 17. Juni, ging gut aus.

Roland Jahn, der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, hat schon vor einem Jahr den Vorschlag gemacht, an den Volksaufstand von 1953 wieder durch einen gesetzlichen Feiertag zu erinnern. Ein solcher Feiertag, ein etwas komischer, war der Tag schon einmal - in der alten Bundesrepublik, von 1954 bis zur Wiedervereinigung; dann wurde er durch den zum Einheitstag erklärten 3. Oktober abgelöst. Der 17. Juni-Feiertag war ein seltsamer, aber sehr präsenter West-Feiertag: Die Abgeordneten im Bundestag zu Bonn hörten Gedenkmusik, die Wähler fuhren zum Baden; und im Osten herrschte an diesem Tag Schweigen.

Der europäische Gründungsmythos

Eine Neuauflage dieses seltsamen Feiertags? Wirklich? Ja! Der Vorschlag ist richtig und gut, weil dieser Feiertag kein seltsamer Feiertag war; er ist nur seltsam begangen worden. Der Tag gehört zu den stolzen, zu den großen Tagen der deutschen Geschichte. Der 17. Juni 1953 ist ein Tag des Widerstands. Er lehrt Mut. Er lehrt, dass es Freiheit nicht zum Nulltarif gibt. Dieser Aufstand ist deshalb nicht einfach "gescheitert" oder "unvollendet". Er fügt sich ein in die Geschichte der europäischen Befreiung: 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn, 1968 in Prag, 1970 und 1980 in Polen; zu dieser europäischen Befreiungsgeschichte gehört im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts die Überwindung der Diktaturen in Spanien, Portugal und Griechenland, dazu gehören die Revolutionen in Osteuropa 1989 ff. Der Heidelberger Zeitgeschichtler Edgar Wolfrum hat zu Recht die Überwindung von Diktaturen als Gründungsmythos bezeichnet.

Der europäische Gründungsmythos ist eine Befreiungs-geschichte, die im 18. Jahrhundert beginnt und zu deren Marksteinen der 17. Juni 1953 gehört - und auch das Jahr 1948, das Jahr also, in dem das Grundgesetz geschrieben wurde. Wir gehen gerade ins Jubiläumsjahr des Grundgesetzes, das Jubiläum von Herrenchiemsee steht vor der Tür. Das und Gedenken an die Tage also, an denen vor siebzig Jahren, auf einer Insel im Chiemsee, von 33 Fachleuten das Grundgesetz geschrieben wurde. Dieses Grundgesetz ist ein Zeugnis des Widerstands und der Kraft der Hoffnung.

Denkmäler für den Widerstand

Die Widerständler von 1848/49, die diese Kraft hatten, sind kaum mehr bekannt. Es ist dies ein deutsches Defizit. Es gibt kaum Denkmäler für Demokratie und Widerstand in Deutschland, es gibt kaum Denkmäler für die deutschen Widerstandskämpfer und Revolutionäre. Nicht für die von 1848/49, nicht für die von 1918, nicht für die von 1953, nicht für die von 1989. Denkmäler müssen nicht unbedingt aus Stein und Bronze sein. Denken, Gedenken und Feiern kann man auch ohne Denkmal - zum Beispiel mit einem Feiertag am 17. Juni; und damit, dass man das Gedenken an die Revolutionäre und Widerstandskämpfer der deutschen Geschichte hochhält.

Damit möchte ich heute, mit diesem Newsletter beginnen - mit der Erinnerung an Hermann Louis Brill. Er war keiner der Aufständischen vom 17. Juni 1953, er war ein Widerstandskämpfer gegen Hitler. Brill, geboren 1895, Sohn eines Schneidermeisters im thüringischen Gräfenroda, Volksschullehrer, Kriegsteilnehmer von 1914 bis 1918, Mitglied der USPD, seit 1922 der SPD, mit 28 Jahren Ministerialdirektor im thüringischen Innenministerium.

Brills Leitung unterstand die Landespolizei, als die Reichswehr 1923 Thüringen unter Ausnahmerecht stellte. Brill war entschiedener Gegner dieser Aktion und von da an ein vehementer Gegner jeglicher Notstandsgesetzgebung. Mit Verve widersprach er beim Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee den Versuchen, ein Notstandsrecht ins Grundgesetz zu schreiben - wie es später, 1968, doch noch kam.

Brills Vita ist eindrucksvoll, unglaublich eindrucksvoll. 1924, nach einem Re­gierungswechsel in Thüringen, ging er zurück an die Uni, studierte Jura, politische Philosophie und Soziologie, blieb dabei weiter Landtagsabgeordneter und vernahm am 14. März 1932 Adolf Hitler. Das kam so: Im Januar 1930 hatte eine bürgerlich-nationalsozialistische Koalition die Regierungsgeschäfte in Thü­ringen übernommen. Innenminister Wilhelm Frick von der NSDAP hatte versucht, Hitler die deutsche Staatsbürgerschaft zu verschaffen - indem er ihn zum Gendarmeriekommissar von Hildburghausen ernannte. Nach dem Ausscheiden der Nazis aus der Regie­rung untersuchte ein Landtagsausschuss diesen Vor­gang, Hermann Louis Brill war der Vorsitzende.

Der Demokrat und der Brutalist: Als der Abgeordnete Brill 1932 Adolf Hitler vernahm

Brill lud Hitler vor und erinnerte sich später so: "Für mich war der 14. März 1932 einer der entscheidendsten Tage meines Lebens. Ich hatte Hitler gehört und gesehen, länger als 30 Mi­nuten hatte er mir gegenübergestanden. Ich besaß ein aus eigener Anschauung geschöpftes, wohlbegründetes Urteil über ihn. Er erschien mir als hysterischer Brutalist, ungebildet, zynisch, durch und durch unwahrhaftig, arrogant, unbeherrscht, bereit, jeden anderen physisch oder moralisch niederzuschlagen. Am 14. März 1932 fasste ich den Entschluss, mich diesem Mann zu widersetzen, zu jeder Zeit, überall, unter allen Umständen und mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln."

Vom NS-Volksgerichtshof wurde Brill 1938 wegen Hochverrats zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt, von US-Truppen wurde er am 27. April 1945 aus dem KZ Buchenwald befreit. Die Amerikaner ernannten ihn zum ersten Regierungschef von Thüringen, die Sowjets warfen ihn alsbald wieder aus dem Amt, danach wurde er in Hessen Staatssekretär und Chef der Staatskanzlei. Schon 1947 plädierte Brill dafür, die Länder der westlichen Besatzungszonen zu einem Staat zusammenzufassen.

Was es auf Herrenchiemsee noch braucht

Der jungen Bundesrepublik hätte es gutgetan, wenn Leute wie Brill mehr Einfluss auf die Nachkriegspolitik gehabt hätten. Aber er war krank, gezeichnet von den Jahren der Haft. Er starb 1959 mit 64 Jahren. Schon bei den Beratungen von Herrenchiemsee hatte er des Öfteren wegen schwerer Krämpfe mitten im Gespräch den Raum verlassen müssen. Er versuchte bei den Beratungen, zwischen der extrem föderalistischen Position Bayerns und den extrem zentralistischen Vorstellungen seines SPD-Parteichefs Kurt Schumacher zu vermitteln. Hätten die Deutschen einen französischen Sinn für Geschichte, dann stünde auf Herrenchiemsee - und nicht nur dort - ein Denkmal für diesen grandiosen Hermann Louis Brill. Setzen wir diesen Leuten ein Denkmal.

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