Prantls Blick:Bagatellisierung rasenden Unrechts

Tödlicher Unfall bei Autorennen beschäftigt den BGH

Dieses Kreuz am Straßenrand in Köln erinnert an den tödlichen Unfall einer Radfahrerin. Die 19-Jährige wurde Opfer eines illegalen Autorennens.

(Foto: Oliver Berg/dpa)

Der Bundesgerichtshof entscheidet diese Woche über Mord in Straßenverkehr. Das Urteil könnte Leben retten.

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Es war an seinem neunzigsten Geburtstag, kurz vor Weihnachten 2017. Christian Schütze, Journalist und Schriftsteller, hatte seine Großfamilie, viele Freunde und Weggefährten ins Wirtshaus Flößerei in Wolfratshausen eingeladen. Schöne Ansprachen waren gehalten worden, der Jubilar selbst hatte brilliert mit einer wunderbaren, fast frei gehaltenen Rede über "Die Zeit als Rohstoff des Lebens". Er schlug darin den Bogen vom alten Augustinus hin zu seinem philosophischen Lehrer Hans-Georg Gadamer in Heidelberg - und kam dann zum Fazit: Die schönste Methode, Zeit ohne schädliche Nebenwirkungen zu nutzen, sei das Verschenken: "Wir können anderen Menschen Zeit schenken und tun es ja auch oft. Denn geschenkte Zeit bringt den größten Gewinn. Es gibt keine bessere Verwendung für den wertvollsten Rohstoff des Lebens."

Umso mehr erschrak ich, als der Jubilar anschließend, im Gespräch am Tisch, zuerst sagte, wie sehr er den Abend genieße, und dann, ebenso heiter wie eindringlich, dass er lange genug gelebt habe. Ich hatte bis dahin geglaubt, das Wort "lebenssatt" sei ein bleischweres und tristes Wort. Aber Christian Schütze redete vom Sterben so zufrieden und zart, als sei das eine Zeit, die er sich selbst schenken wolle. Und so war es wohl auch. Er starb am vergangenen Donnerstag, wenige Wochen nach dem Geburtstagsfest. Er hatte im Jahr 2017 noch seine Autobiographie fertiggestellt, sie aber nicht protzerisch in einem großen Verlag publiziert, sondern in kleiner Auflage im Selbstverlag für seine Freunde.

Friedliches und unfriedliches Sterben

Vielleicht hatte er an seinem Geburtstag selbst noch nicht geahnt, wie schnell die Zeit kommen würde, die er sich selbst schenkt. Er starb an einer Nierenerkrankung und der bewussten Weigerung, sich einer regelmäßigen Dialyse zu unterziehen. Bei vollem Bewusstsein hat er diese lebensverlängernden Maßnahmen abgelehnt; er hatte sich immer einen natürlichen Tod gewünscht.

Christian Schütze war mein journalistischer Lehrer; er war, vor gut dreißig Jahren, mein erster Chef in der "Süddeutschen" gewesen und er war mein Vor-Vorgänger als Leiter der Redaktion Innenpolitik dieser Zeitung. Er hat einen Abschiedsbrief an seine Familie und Freunde geschrieben: "Ich wünsche, dass Jeder von Euch so viel Glück im Leben haben möge, wie ich es hatte." und er bat darum, "Frieden zu halten". Christian Schütze konnte im Kreis seiner Großfamilie sterben, nach eigener Aussage bis zuletzt ohne Angst und Schmerzen. Sein Leben konnte friedlich zu Ende gehen: Man sieht dankbar die Früchte, die man selbst von diesem Leben ernten und genießen durfte. Da steht nichts mehr aus, alles ist gelebt, getan, gesagt. Man ist traurig, einen großartigen Menschen zu verlieren; aber es ist gut.

Der mörderische Tod

Ich hänge diesen Gedanken über ein friedliches Sterben nach beim Schreiben eines Newsletters, den ich zu einem ganz anderen Sterben schreiben will: Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe verkündet am Donnerstag, 1. März, Urteile in Fällen, in denen es um jähen, um mörderischen Tod geht. Da wurden Menschen mitten aus dem Alltag, aus der Mitte ihres Lebens, Liebens und Schaffens in den Tod gerissen von rücksichtslosen Autorasern. Keiner konnte Abschied nehmen. Man versteht die Fassungslosigkeit der Familien. Was befriedet, wenn Menschen gewaltsam durch mutwillige Raserei sterben müssen?

Autoraser - Vorsatz oder nur Fahrlässigkeit?

In einem der Fälle, die vom Bundesgerichtshof zu beurteilen sind, war es so: Die zwei Angeklagten hatten sich zu einem Autorennen mitten in Berlin verabredet; sie jagten mit 160km/h über den Kudamm, missachteten absichtlich ein Dutzend rote Ampeln. Ein Jeep, der aus einer Seitenstraße kam und bei Grün über die Kreuzung fuhr, wurde gerammt, der Fahrer starb. Ist das nur eine fahrlässige Tötung? Nur Unachtsamkeit?

Bei Fahrlässigkeit gibt es üblicherweise eine Geldstrafe oder Freiheitsstrafe mit Bewährung. So haben die Gerichte lange auch gegen Raser geurteilt - milde, sehr milde. Jetzt steht etwas ganz anderes im Raum, es ist der schwerste Vorwurf, den es im Strafrecht gibt: Mord. Die Frage lautet: Muss einer, der fährt wie ein Wahnsinniger, weil es ihm Spaß macht - muss der nicht damit rechnen, dass seine wahnsinnige Raserei Menschen tötet? Wenn er sich einfach damit abfindet, weil ihm sein Nervenkitzel wichtiger ist - ist das noch bewusste Fahrlässigkeit oder doch bedingter Vorsatz? Wenn der Raser den Gedanken an die gefährdeten Menschen einfach wegschiebt ("Es wird schon nichts passieren!") - ist das noch bewusste Fahrlässigkeit oder doch bedingter Vorsatz? Diese Frage muss der Bundesgerichtshof beantworten. Das Auto, das zur Raserei mitten in der Stadt benutzt wird, ist gewiss ein gemeingefährliches Tatmittel. Objektive Mordmerkmale sind erfüllt.

Es geht um die Beurteilung des subjektiven Tatbestands. Es geht um die juristische Beurteilung des Willens und Wollens der Täter.

Die Bagatellisierung des rasenden Unrechts

Jedenfalls wäre es gut, wenn die Tötung im Straßenverkehr künftig nicht mehr so lässlich behandelt würde, als handele es sich dabei um die Realisierung des allgemeinen Lebensrisikos. Es wäre gut, wenn die Bagatellisierung rasenden Unrechts auf deutschen Straßen zu Ende ginge. Natürlich ist nicht jede tödlich endende Raserei Mord und nicht jede Raserei ein Mordversuch. Aber in besonderen Ausnahmefällen spricht viel dafür, dass das so ist.

Wenn der Bundesgerichtshof ein kluges, ein generalpräventives Urteil fällt, kann das ein Urteil sein, das künftig Leben rettet. Um es mit Christian Schütze zu sagen: Der Bundesgerichtshof kann den potentiellen Opfern Zeit schenken - Lebenszeit. Es gibt keine bessere Verwendung für den wertvollsten Rohstoff des Lebens.

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