Jeden Sonntag beschäftigt sich Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion und Ressortleiter Meinung der SZ, mit einem Thema, das in der kommenden Woche - und manchmal auch darüber hinaus - relevant ist. Hier können Sie "Prantls Blick" auch als wöchentlichen Newsletter bestellen - exklusiv mit seinen persönlichen Leseempfehlungen.
Ich fahre oft am Gefängnis von München-Stadelheim vorbei. Bisweilen schalte ich dann die Musik im Autoradio aus, weil die Gedanken Stille brauchen. Dort, in München-Stadelheim, wurde die Weiße Rose von den Nazis umgebracht. Das ist jetzt 75 Jahre her. Am 22. Februar 1943 wurden die Geschwister Hans und Sophie Scholl zusammen mit ihrem Freund Christoph Probst im Gefängnis von München-Stadelheim ermordet. Sie hatten Flugblätter gegen den Krieg und die Diktatur unter Adolf Hitler verbreitet: "Hitler und das Regime müssen fallen, damit Deutschland lebt", stand auf dem von Christoph Probst entworfenen Flugblatt, das Hans Scholl bei seiner Verhaftung bei sich trug.
Der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter wird am Donnerstag an den Grabstätten der Geschwister Scholl im Friedhof am Perlacher Forst einen Kranz niederlegen; anschließend wird man zum Grab von Alexander Schmorell gehen. Schmorell war Mitgründer der Widerstandsgruppe Weiße Rose, hatte nach der Verhaftung der Scholls vergeblich versucht, über Schloss Elmau in die Schweiz zu fliehen, war nach München zurückgekehrt und am Tag der Beerdigung seiner Freunde in einem Luftschutzkeller erkannt und denunziert worden. Auch er wurde vom sogenannten Volksgerichtshof zum Tod verurteilt und im Juli 1943 zusammen mit Professor Kurt Huber in Stadelheim durch das Fallbeil hingerichtet.
Wenn jeder wartet, bis der andere anfängt, wird keiner anfangen
Geschichte, lang her? Es stimmt nicht, dass die Weiße Rose Geschichte ist und nichts als Geschichte. Es stimmt nicht, dass aus der Weißen Rose für heute nichts zu lernen sei. Die Sätze aus den Flugblättern der Weißen Rose haben ihre eigene Bedeutung in jeder Zeit, auch in der gegenwärtigen: "Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt!" Und: "Wenn jeder wartet, bis der andere anfängt, werden die Boten der rächenden Nemesis unaufhaltsam näher und näher rücken, dann wird auch das letzte Opfer sinnlos in den Rachen des unersättliches Dämons geworfen sein." Also: Wenn jeder wartet, bis der Andere anfängt, wird keiner anfangen. Dann werden wir eingeholt von den Folgen unserer Versäumnisse. Jeder und jede muss für sich nachdenken, was ihm und was ihr das heute sagt und wozu es ihn und sie verpflichtet. Die Gefahr, bequemer Anpassung zu erliegen, wie sie die Weiße Rose angeprangert hat, gibt es heute so wie damals.
Es gibt, damals wie heute, die Formeln, die man gern zur Beschwichtigung oder zur Tarnung der eigenen Bequemlichkeit benutzt. Dazu gehört der Satz: "Alleine kann man ja doch nichts bewirken." So oft heißt es also: "Was soll man machen?" - das war schon immer so und das wird auch so bleiben. Es sind Sätze der Gleichgültigkeit, Sätze der Trägheit, der Apathie, der Resignation, manchmal auch der Feigheit. In uns allen stecken solche Sätze: "Was soll man machen? Da kann man gar nichts machen." Und: "Nach uns die Sintflut". Eine Demokratie kann man aber mit solchen Sätzen nicht bauen. Einen guten Rechtsstaat auch nicht. Und die Menschenrechte bleiben, wenn man solchen Sätzen nachgibt, papierene Rechte. "Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt!" Dieser Satz ist ein Satz der Anklage in einer Zeit, in der die Gleichgültigkeit globalisiert ist und in der Tausende von Flüchtlingen im Mittelmeer sterben. Sie verdursten auf dem Wasser. Sie gehen unter. Sie erfrieren in der Kälte der europäischen Flüchtlingspolitik. Papst Franziskus nennt die Gleichgültigkeit "ein Virus, das lähmt, das unbeweglich und unempfindlich macht".
Nie wieder? Schon wieder!
Vor bald 25 Jahren habe ich für mein Buch "Deutschland, leicht entflammbar" in der Aula der Münchner Universität sehr bewegt den Geschwister-Scholl-Preis entgegen nehmen dürfen. Das war 1994, in einer Zeit, in der viele Flüchtlings- und Ausländerwohnheime angezündet wurden. Ein Jahr zuvor war, nach heftigen politischen Auseinandersetzungen, das alte Asylgrundrecht geändert und eingeschränkt worden. In meiner Dankesrede habe ich mich damals mit dem Wort "Mut" befasst - vom Mut der Mitglieder der Weißen Rose in einer Zeit, in der das freie Wort Lebensgefahr bedeutet hat.
Wer vom Mut der Weißen Rose spricht, der tut sich schwer, dieses Wort in einer Gegenwart zu gebrauchen, in der Mut fast nichts kostet. Umso mehr, so dachte ich damals und so denke ich heute, ist das Handeln der Geschwister Scholl Verpflichtung. Es ist Verpflichtung in einer Gegenwart, in der sich der Neonazismus und der Rassismus wieder aufblasen wie seit Jahrzehnten nicht. Wenn ein AfD-Politiker in öffentlicher Rede auf einer großen Aschermittwochs-Veranstaltung vor johlenden Anhängern Deutsche mit ausländischen Wurzeln als "Kümmeltürken" und "Kameltreiber" beschimpft, die wieder ausgeschafft gehörten, dann weiß man, dass das Motto "Nie wieder" nicht mehr gilt. Man muss jetzt "Schon wieder" schreiben.
Vor 25 Jahren wussten wir nicht, was wir heute wissen: Damals, in der Zeit des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen, in den Monaten der ausländerfeindlichen Ausschreitungen, begannen braune Kameradschaften, sich zu radikalisieren. In dieser Zeit wurden die Mörder vom Nationalsozialistischen Untergrund NSU erwachsen. In dieser Zeit begann das "Klima der Angst", das Rechtsextremisten in Teilen Ostdeutschlands geschaffen haben - ein Lagebericht des Bundeskriminalamts nennt das so. Die Aufdeckung der zehn Neonazi-Morde durch den NSU ist nun sechs Jahre her. Erstaunlich schnell sind Politik und Sicherheitsbehörden wieder zum Alltag übergegangen. Das Entsetzen über die Verbrechen des NSU hat sich gelegt. Die Aufregung ist abgeflaut, der Ruf nach Konsequenzen verstummt. Der Bundesinnenminister hat ein paar Spitzenbeamte ausgewechselt, das war es dann. Eine Zeitlang hörte man noch makabre Nachrichten aus den Untersuchungsausschüssen über das unsägliche Versagen der Sicherheitsbehörden; deren Vertreter reden das dann schön. Vor ein paar Jahren gab es noch kleine öffentliche Aufwallungen, wenn bekannt wurde, dass einschlägige Akten vom Verfassungsschutz vernichtet wurden. Und manchmal erinnerte man sich dann an die Erregung, die das ganze Gemeinwesen zur Zeit der RAF-Morde erfasste, und man wunderte sich über die allgemeine Gelassenheit von heute.
Der alltägliche gewalttätige Rassismus in Deutschland ist nach der Aufdeckung der NSU-Morde kein großes Thema geworden. Die Bürger, die sich Neonazis entgegenstellten, erhielten nach wie vor wenig Hilfe. Wenn Neonazis couragierten Leuten zur Einschüchterung das Auto demolierten, wurde das von der Polizei wie eine ganz normale Sachbeschädigung behandelt. Die Morde der NSU haben keine neue Sensibilität der Behörden ausgelöst. Es gab keine Anweisungen, gegen braune Gewalt mit aller Energie vorzugehen. Es gab keine neuen Prioritäten in der Politik. Es gab keine Indizien für neue Verve, neue Tatkraft, neue Courage im Kampf gegen den Rechtsextremismus. Man tat und man tut so, als seien die NSU-Morde das eine - und die alltäglichen Gewalttätigkeiten gegen Ausländer etwas ganz anderes.
Diejenigen Politiker, die Neonazis engagiert entgegentraten, erlebten merkwürdige Dinge. Gegen sächsische Abgeordnete, die an Protesten gegen einen Neonazi-Aufmarsch teilgenommen hatten, ermittelte die Staatsanwaltschaft in Dresden wegen "Sprengung" einer genehmigten Versammlung. Und das Parlament in Sachsen hob bei den demonstrierenden Anti-Nazi-Abgeordneten die Immunität auf. Sind das die Zeichen, die wir brauchen? Selbst Wolfgang Thierse musste, er war damals Bundestagsvizepräsident, seltsame Erfahrungen machen: Als er sich an einer Sitzblockade gegen Neonazis beteiligte, wurde ihm vorgeworfen, er habe die "Würde des Amtes verletzt". Wer Zivilcourage zeigt, muss mit Unbill rechnen. Thierse teilt eine Erfahrung, die viele couragierte Bürger machen.
Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch
Seit der Aufdeckung der zehn Neonazi-Morde und seit den Erkenntnissen über das braune verbrecherische Netzwerk - seitdem ist klar, dass ein berühmter Satz von Bertolt Brecht nicht nur Bedeutung für den Deutschunterricht an Gymnasien hat. Seit fünfzig Jahren kennen die Deutschen diesen Satz: "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch". Er steht im Epilog des Theaterstücks "Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui", das die Hitlerei und den Nazismus in die Welt des Gangstertums transferiert. Es ist dies, so hat sich grausam gezeigt, ein Satz von kriminalistischer Wahrheit.
Er ist auch von politischer Wahrheit. Der Neonazi Björn Höcke, Vorsitzender der AfD-Fraktion im Landtag von Thüringen, hat in seiner berüchtigten Rede vom Januar 2017 im Dresdener Ballhaus Watzke das Berliner Holocaust-Denkmal als "Denkmal der Schande" geschmäht. Er hat die Kultur der Erinnerung als "mies und lächerlich" beschimpft. "Erbärmliche Apparatschiks" nannte er die Politiker der anderen Parteien, denen er vorwarf, "unser liebes Volk" in den Untergang zu führen. Dann folgte der Aufruf: "Wir können Geschichte schreiben. Tun wir es." Viele Wähler haben es am 24. September 2017 getan. Sie haben eine Partei gewählt, die als Parteifarbe ein schmeichelndes Blau auf ihre Plakate druckt, die aber im Inneren immer brauner wird.
Das sind Gedanken, die mir bisweilen durch den Kopf gehen, wenn ich am Gefängnis von München-Stadelheim vorbeifahre. Dann schalte ich die Musik im Autoradio aus. "Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt!" heißt es im Fünften Flugblatt und danach eindringlich: "Entscheidet Euch, eh' es zu spät ist!" Wenn jeder wartet, bis der Andere anfängt, wird keiner anfangen.