Jeden Sonntag beschäftigt sich Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion und Ressortleiter Innenpolitik der SZ, mit politischen Themen, die in der kommenden Woche - und manchmal auch darüber hinaus - relevant sind. Hier können Sie "Prantls Blick" als wöchentlichen Newsletter bestellen - mit seinen persönlichen Leseempfehlungen.
Kurz vor Weihnachten ist ein besonderes Jubiläum: Vor einhundert Jahren, am 21. Dezember 1917, wurde der Schriftsteller Heinrich Böll in Köln geboren. Das Jahr 1917 war auch das Jahr, in dem Konrad Adenauer erstmals Kölner Oberbürgermeister geworden war. Bölls erstes Buch erschien dann 1949, also in dem Jahr, in dem der Bundestag Adenauer zum ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland wählte. Adenauer und Böll: Ihre Lebenslinien berühren und verstricken sich.
Dieser Newsletter heute ist eine kleine Hommage an Heinrich Böll zum einhundertsten Geburtstag. Und ich mag darin auch ein bisschen nachdenken über Adenauer und Böll, die beiden so gegensätzlichen Figuren der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. Sie waren Gegenspieler; und doch repräsentieren beide die frühere Bundesrepublik in komplementärer Weise.
Die Jagd nach Brot, Zigaretten und Liebe
Gehen wir mit Heinrich Böll durchs zertrümmerte Köln der frühen Jahre: Am 8. Mai 1945 kehrte der junge Soldat Hans Schnitzler heim in den Trümmerhaufen, der von der Stadt Köln übrig geblieben war. Die meisten Straßen waren nicht zu begehen. Schutt und Dreck türmten sich bis zu den ersten Stockwerken der ausgebrannten Häuser, über einigen Straßenzügen hing noch Qualm in großen dichten schweren Schwaden. Aus manchen Geröllhalden waren schon grüne Hügel geworden, auf denen Bäumchen wuchsen.
Böll begleitete Hans Schnitzler auf seinem Weg in die Keller der zerbombten Häuser, in Elendsquartiere, Notspitäler und in zerstörte Kirchen; er folgte ihm bei seiner animalischen Jagd nach Brot, nach Kohlen, nach einem Mantel, einem trockenen Bett, nach Zigaretten und Liebe.
Der Roman, den Böll daraus machte, war sein erster und heißt "Der Engel schwieg". Wir lesen, wie Schnitzler die Stelle wiederfindet, an der das Mietshaus stand, in dem er gewohnt hatte: "Vielleicht war es die Zahl der Schritte, die von der Straßenkreuzung noch zu gehen waren, oder irgend etwas an der Anordnung der Baumstümpfe, die einmal eine hohe und schöne Allee gebildet hatten. Irgendetwas veranlasste ihn, plötzlich haltzumachen, nach links zu sehen, und da war es: Er erkannte den Rest des Treppenhauses, stieg über die Trümmer langsam dorthin; er war zu Hause."
Wir werden sehr oft traurig sein
Zu Hause? Viele Heimkehrer hatten das Gefühl, dass es keine Heimat auf dieser Welt mehr gibt. Zu Hause - das waren Gestank, Schwarzmarkt, Hunger, Diebstahl, Faustrecht und Betrug. Das war in Köln so und in Hamburg, in Berlin, Hannover, Dresden, München und Kassel. Im Inneren der Menschen setzte sich die äußere Verwüstung fort; die Zukunft war ein bombentrichtergroßes Loch. Zu einer jungen Frau, die er in den Trümmern findet und die seine Gefährtin wird, sagt Hans Schnitzler den Satz: "Wir werden sehr oft traurig sein."
Durch Bölls ganzes Werk zieht sich diese Traurigkeit, die sich manchmal zum heiligen Zorn steigert. Böll war zornig über Adenauer, über dessen restaurative Politik, über die Wiederbewaffnung; über die Springer-Presse und ihr Geifern gegen die Studentenbewegung der Achtundsechziger. Böll und viele andere Intellektuelle haben Gift und Galle gespuckt gegen Adenauer, der für sie Inbegriff einer miefigen, verlogenen und bigotten Nachkriegsgesellschaft war. Das war verständlich, das war so oft berechtigt. Adenauer titulierte die Gegner der Wiederbewaffnung öffentlich als "Dummköpfe ersten Ranges" und als "Verräter". Auch Böll gehörte, wie der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann, zu diesen angeblichen Dummköpfen; später gehörte Böll - angeblich - zu den Sympathisanten der RAF, weil er - zu Recht - die Fahndungshysterie kritisierte. Die Politik war und ist immer wieder schnell fertig mit ihren Kritikern.
Aber auch die Kritiker erkannten etwas nicht; sie erkannten nicht, wie Adenauers Politik das Land stabilisierte und mit der Demokratie versöhnte, die den Bundesrepublikanern bis weit in die fünfziger Jahre hinein suspekt gewesen war. Die große Rentenreform 1957 beispielsweise, mit der Adenauer die dynamische Rente einführte, war weit mehr als ein geniales Wahlgeschenk des Alten vom Rhein; sie war ein Umverteilungsprojekt, geformt aus sozialkatholischem Geist, bezahlt vom neuen Wohlstand; sie war unglaublich populär und sie stabilisierte die Demokratie.
Wie Böll Adenauer rehabilitierte
Adenauer und Böll: Sie waren wie der rechte und der linke Schuh der jungen Demokratie. 1975, acht Jahre nach Adenauers Tod, schrieb der bittere Böll einen wunderbar einlenkenden Satz: "Adenauer mag mehr Verdienste haben, als ich zu erkennen imstande bin, und möglicherweise hat er nur einen politisch gravierenden Fehler begangen: dass er zu lange regierte und mit greisenhafter Boshaftigkeit seine eigene Größe in lauter senile Kleinlichkeit auflöste." Für Bölls Verhältnisse war das eine beinah glänzende Rehabilitierung des Alten - zu einer Zeit freilich, in der das Land die Adenauer-Ära schon hinter sich gelassen hatte.
Der Westpolitik Adenauers war die Ostpolitik Willy Brandts gefolgt und die Achtundsechziger-Generation hatte ihren Eltern deren beredtes Schweigen zur Nazi-Vergangenheit wütend vorgehalten. Willy Brandt hatte den Friedensnobelpreis, Heinrich Böll den Literaturnobelpreis erhalten. "Mehr Demokratie wagen" war zu einem neuen deutschen Motto und das Land aufgeklärter, rebellischer, auch schon ein wenig liberaler geworden.
Die deutschen Farben. In der Mitte: das Brandt- und Böll-Rot
Schwarz-Rot-Gold: Die deutschen Farben zeigen in schöner Abfolge die Geschichte der Bundesrepublik. Auf das Schwarz der Adenauer-Zeit folgte das Brandt-und-Böll-Rot; darauf das Gold der Wiedervereinigung. Der schwarze, der rote und der goldene deutsche Streifen wurden und werden zusammengehalten und verbunden vom Grundgesetz. Aber: Die Aufklärung und die Liberalität sind heute nicht mehr so selbstverständlich, wie es vor ein paar Jahrzehnten, zu Bölls Lebzeiten, schon zu sein schien.
Es ist Weihnachten. Da darf man sich etwas wünschen: Zu Weihnachten und zum 100. Geburtstag von Heinrich Böll wünsche ich mir wieder "mehr Demokratie wagen". Ich wünsche mir die demokratische Freude und den rechtsstaatlichen Ehrgeiz zurück. Ich wünsche mir unser Land wieder aufgeklärter, rebellischer, mutiger und liberaler - nicht nur zur Weihnachtszeit.