Jeden Sonntag beschäftigt sich Heribert Prantl, Kolumnist und Autor der SZ, mit einem Thema, das in der kommenden Woche - und manchmal auch darüber hinaus - relevant ist. Hier können Sie "Prantls Blick" auch als wöchentlichen Newsletter bestellen - exklusiv mit seinen persönlichen Leseempfehlungen.
"Bleiben Sie gesund" - dieser kleine Satz ist zur coronaren Verabschiedungsformel geworden. Bleiben Sie gesund: Das ist eine liebenswürdig-verlegene, das ist eine zuversichtliche Formel in zermürbender Zeit; das ist ein guter und frommer Wunsch. Manchmal klingt der Satz nach so vielen Monaten der Pandemie schon arg routiniert, manchmal blitzt darin aber Optimismus auf, so wie ein Stern am finsteren Himmel. Bleiben Sie gesund: Die Hoffnung, dass die Impfungen möglichst bald Wirkung zeigen, steckt auch darin, vielleicht auch die Hoffnung, dass in der Nach-Corona-Zeit nicht alles, aber doch vieles wieder so sein wird wie vorher. Manchmal klingt der Satz freilich auch imperativ. Dann steht hinter dem "Bleiben Sie gesund" ein großes Ausrufezeichen, dann klingt der Wunsch nach Befehl und Beschwörung.
Im Augenblick steht die Menschheit da und versteht einander und die Welt nicht mehr. Das Chaos, das die Pandemie geschaffen hat, ist global und beängstigend. Es ist nicht ganz klar, ob die Ungleichheiten und Spaltungen in den Gesellschaften und zwischen den Nationen zunehmen, oder ob die bestehenden Ungleichheiten und Spannungen nur stärker ans Licht kommen. Corona ist wie eine Sturmflut. Wenn die Wellen heranrollen, vergehen einem Hören und Sehen unter ihrer Gewalt. Wenn die Wellen abflauen, sieht man den Dreck am Ufer liegen, den man sonst nicht sieht, wenn man aufs blaue Meer blickt, von dem man aber weiß, dass er darin schwimmt.
Die Menschheit steht ängstlich und verwirrt da, und es gibt keinen Reset-Knopf. Die alten Krisen werden nicht bewältigt sein, wenn Corona bewältigt ist. Die Gewalt der Coronawellen besteht auch darin, dass sie lebens- und überlebenswichtige immaterielle Güter fortspülen, nämlich das Vertrauen und die Hoffnung. Müdigkeit, Pessimismus und Verzweiflung grassieren.
Die Fähigkeit, das Beste zu hoffen
Optimismus wäre gefragt, Optimismus ist gefragt, also die Fähigkeit, das Beste zu hoffen. Diese Feststellung ist weit entfernt von Gefühligkeit, sie ist Teil dessen, was Sache ist. Optimismus ist die Bedingung für die Möglichkeit von Politik. Damit meine ich nicht jenen falschen Zweck-Optimismus, der das Elend elegant überspringt; ein solcher Sprung bringt Enttäuschung und vermehrt die Aggression der Enttäuschten. Corona hat Konflikte an die Oberfläche gebracht, sie sichtbar gemacht, pointiert und verschärft. Das ist die Härte des Virus, das ist aber auch sein Verdienst, sofern das Managermantra gilt, dass man in jeder Krise die Chance sehen soll.
Corona hat Konflikte verschärft. Die Frage nach dem Stellenwert des Rechts auf Leben - sie war schon durch das Sterben der Flüchtlinge im Mittelmeer drängend. Die Fragen nach der Notwendigkeit massiver staatlicher Eingriffe und nach der Rolle des Parlaments dabei - sie waren schon in der Bankenkrise drängend und sie werden es erst recht in der Klimakrise sein. Die Frage nach der Sammlung und der Nutzung von Daten - sie war schon nach den Enthüllungen von Edward Snowden drängend. So kann man die Fragen weiter aufzählen, und es ist mühsam, furchtbar mühsam, Antworten zu finden.
Aber eines ist durch Corona auch deutlich geworden: Welche Antworten auch immer gesucht und gefunden werden, das Suchen und Finden darf kein autoritäres Suchen und Finden werden, es muss ein demokratisches Suchen und Finden bleiben beziehungsweise ein demokratisches Suchen und Finden werden. Es muss mit dem Wissen einhergehen, dass es immer eine Vielheit von Stimmen und Alternativen, dass es den mühsamen Weg des Hörens, Verstehens und Aushandelns gibt - der nicht dadurch ersetzt werden kann, dass man sich auf "das Volk" oder "die Wissenschaft" beruft, auf "die Vernunft" auf "die Gesundheit" oder auf die "Alternativlosigkeit". Im Streit über Coronabonds und die nötigen Finanzhilfen für Südeuropa, in der Konkurrenz beim Erwerb von Schutzausrüstung, in der Debatte über die Anschaffung und Verteilung des Impfstoffs brechen Traumata auf, die durch eine jahrzehntelange Politik der vermeintlichen Alternativlosigkeit verursacht wurden. Nicht nur die Bekämpfung des Virus ist das Ziel. Auch der Weg dahin ist das Ziel, nämlich dabei die Gesundheit der Demokratie und den gesellschaftlichen Ausgleich zu bewahren.
Bleiben Sie gesund! Was ist eigentlich Gesundheit? Der Wunsch wird einem ja entboten und hinterhergerufen, egal ob man pumperlgesund ist oder ob man an Diabetes, Depression, Bandscheibenvorfall leidet oder man gerade zwischen seinen Chemotherapien steckt - als bestünde Gesundheit schon darin, frei vom Virus zu sein. Ist Gesundheit die Abwesenheit von Krankheit? Oder die Immunität gegen sie? So ein aseptisches Verständnis von Gesundheit kann krankmachen, es kann das Leiden derer vergrößern, die nicht geheilt werden können. Gesund ist es, auch mit einer Krankheit leben zu können, eventuell sogar aus ihr Kraft zur Lebensveränderung zu gewinnen. Das meine ich nicht als wohlfeilen Ratgeberspruch.
Das bedeutet nicht, dass man dem Virus, der Krebszelle oder dem Unfall einen esoterischen Sinn oder eine höhere Weihe verleiht. Virus, Krebs oder Unfall sind an sich keine Chance, sie sind kein hintersinniger Fingerzeig, sie sind keine moralische Aufgabe. Eine Krankheit beeinträchtigt das Leben, eine tödliche Krankheit setzt dem Leben ein Ende. Schmerzen tun weh und machen keinen Helden oder besseren Menschen aus dem Geplagten.
Aber es ist eine Illusion, Krankheit und Schmerzen und Viren völlig entkommen zu können, sie völlig verschwinden lassen zu können. Es geht auch darum, sie ins Leben zu integrieren, ins persönliche und in das gesellschaftliche. Zu ihrer Bewältigung ist mehr notwendig, als sie mit Medikamenten und Impfungen zu bekämpfen. Das Ringen um Heilung und Überleben ist dringend geboten; die Suche nach den richtigen Wegen dahin ist unabdingbar. Privatisieren und Sparen im Pflege- und Gesundheitswesen war eine Verirrung und gehört zur erwähnten Politik der angeblichen Alternativlosigkeit. Die Coronawellen haben diesen Dreck sichtbar gemacht. Aber notwendig im Sinne von Not wendend ist auch ein gewisses Maß an Akzeptanz, dass das Leben sterblich ist, und die Kraft der Hoffnung - also ein gesunder Optimismus, der Bedrohung zum Trotz.
Der Wille zur Zukunft
Dietrich Bonhoeffer schrieb über Gesundheit und Optimismus diese Sätze: "Optimismus ist bei den Klugen verpönt. Es ist klüger, pessimistisch zu sein: Vergessen sind die Enttäuschungen und man steht vor den Menschen nicht blamiert da. Optimismus ist in seinem Wesen keine Ansicht über die gegenwärtige Situation, sondern er ist eine Lebenskraft, eine Kraft der Hoffnung, wo andere resignieren, eine Kraft, den Kopf hochzuhalten, wenn alles fehlzuschlagen scheint, eine Kraft, Rückschläge zu ertragen, eine Kraft, die die Zukunft niemals dem Gegner lässt, sondern sie für sich in Anspruch nimmt. Es gibt gewiss auch einen dummen, feigen Optimismus, der verpönt werden muss. Aber den Optimismus als Wille zur Zukunft soll niemand verächtlich machen, auch wenn er hundertmal irrt. Er ist die Gesundheit des Lebens."
Diese Gesundheit des Lebens für die Zeit in und nach Corona wünsche ich uns: Dass die Menschen wieder miteinander reden können, dass die angstbesetzte Polarität der Reaktionen auf Corona einem zuhörenden und diskutierenden Miteinander Platz macht.
Hoffnung ist der Wille zur Zukunft. Diese Hoffnung muss wieder Atem bekommen.