Wohnungsnot:Der Ruf nach Enteignung ist verständlich
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Eigentum verpflichtet - zu gar nichts, glauben Immobilienkonzerne. Kein Wunder, dass sich viele Berliner nun mit einem Volksbegehren wehren.
Kolumne von Heribert Prantl
In den wilden Achtundsechzigerjahren der alten Bundesrepublik, als es noch eine Wehrpflicht gab, sich aber immer mehr junge Menschen dieser Pflicht verweigerten und deshalb einer Gewissensprüfung vor einer staatlichen Kommission unterzogen wurden, sang der Liedermacher Franz Josef Degenhardt ein bissiges Lied über diese Gewissensprüfung. Es hieß "Befragung eines Kriegsdienstverweigerers"; der Sänger übernahm den Part des Vorsitzenden der Prüfungskommission. "Sie berufen sich hier pausenlos aufs Grundgesetz", so antwortete er dem Verweigerer; "sagen Sie mal, sind Sie eigentlich Kommunist?"
So war das damals, 1972. Das ist lange her. Das Grundgesetz und die Grundrechte sind seitdem zur geliebten Autorität, ja zum Alltagsbegleiter der Menschen geworden. Wer heute das Grundgesetz kennt und nennt, darauf vertraut und mit ihm argumentiert, der gilt nicht mehr als verdächtig, sondern als Verfassungspatriot - es sei denn, er pocht auf einen fast vergessenen Artikel, auf einen, den viele Staatsrechtler und Politiker überblättern, weil sie ihn für eine Jugendsünde der Republik halten, für ein Kuckucksei im Nest der Verfassung. Es ist der Artikel 15 - ein Artikel an bester Stelle, ganz weit vorne, mitten unter den Grundrechten. Er war den Müttern und Vätern des Grundgesetzes wichtig, weil ihnen das Gemeinwohl wichtig war. Er handelt von Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln, die "zum Zwecke der Vergesellschaftung in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt" werden können - gegen Entschädigung natürlich.
Auf diesen Artikel 15 beruft sich nun eine Initiative in Berlin, die auf große Wohnungskonzerne zugreifen möchte, auf solche, die mehr als dreitausend Wohnungen halten; deren Wohnungen sollen in Gemeinschaftseigentum umgewandelt werden; das heißt: Sie sollen nicht mehr privatwirtschaftlich, sondern von einer Anstalt des öffentlichen Rechts betrieben werden. Es geht um Unternehmen wie die Deutsche Wohnen, die in Berlin knapp 112 000 Wohnungen besitzt und deren Großaktionär der US-Vermögensverwalter Blackrock ist. Man wirft diesen Konzernen vor, dass sie schuld seien an der extremen Entwicklung der Mietpreise; sie sind in Berlin von 2008 bis 2018 um 78 Prozent, in München um 61 Prozent gestiegen.
An diesem Samstag beginnt im Bundesland Berlin ein Volksbegehren mit dem Motto "Deutsche Wohnen und Co. enteignen". Das ist eigentlich ein schiefes Motto, denn es handelt sich juristisch nicht um eine Enteignung, wie sie im Artikel 14 Absatz 3 des Grundgesetzes "zum Wohle der Allgemeinheit" vorgesehen ist; bei dieser klassischen Enteignung geht es darum, für eine einzelne Maßnahme, einen Straßenbau oder einen neuen Stadtteil, die erforderlichen Grundstücke zwangsweise zu beschaffen. Beim Anliegen des Volksbegehrens geht es nicht um so eine konkrete Einzelmaßnahme, sondern um "Sozialisierung" - ein Wort, das vor dreißig Jahren ein Schreckenswort war. Es hat offenbar für eine neue Generation den Schrecken verloren; es steht heute eher für die Hoffnung auf Besserung.
Die Betreiber des Volksbegehrens werfen den Konzernen vor, auf dem Rücken der Mieter ihren Reibach zu machen - mit Mieterhöhungen und mit Luxussanierungen (anstelle von Instandhaltung). Die Linken sind für das Volksbegehren, ein Teil der Grünen und der SPD ist es auch, ebenso etwa die Hälfte der Berliner Bevölkerung. Warum ist das so? Die Menschen spüren, dass sie durch ständige Mieterhöhungen enteignet werden; sie sehen auch, dass Mietpreisbremsen, Milieuschutzsatzungen und Ähnliches nichts oder fast nichts bewirkt haben; deshalb sind viele jetzt dafür, den Gesellschaften ihr Eigentum gemäß Artikel 15 wegzunehmen.
Im Artikel 14 steht der berühmte Satz "Eigentum verpflichtet". Und es folgt die Erläuterung: "Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen." Die Politik hat von diesem Satz immer weniger Gebrauch gemacht. Im Gegenteil. Die öffentliche Hand hat sich selbst enteignet. Sie hat viele Güter, die ihr Eigentum waren, privatisiert, weil das die ökonomische Heilslehre war. Das Grundgesetz erinnert den Staat daran, dass er seine Pflichten fürs Gemeinwohl nicht verkaufen kann. Und so wird Artikel 15 deshalb aktuell, weil Artikel 14 nicht geachtet wurde.
Auch das Bundesverfassungsgericht, sonst Großmeister beim Bau von dogmatischen Gebäuden, hat sich um die Gemeinwohlbindung des Eigentums wenig gekümmert. Eigentum verpflichtet: Diesen Verfassungsauftrag hat das Gericht kaum je postuliert. Die wenigen Urteile dazu gehen mit den frühen Sechzigerjahren zu Ende. Stattdessen hat dann der Neoliberalismus den Satz der Verfassung auf seine Weise ergänzt: Eigentum verpflichtet - zu nichts, außer zur Gewinnmaximierung. Diese von Recht, Gesetz und Gericht nicht gebremste Perfidie hat zur Finanzkrise geführt. Und die wiederum hat dazu geführt, dass der Staat die Hypo Real Estate, eine Holding zur gewerblichen Immobilienfinanzierung, durch Verstaatlichung retten musste - mit gigantischen Mitteln aus dem Finanzmarktstabilisierungsfonds.
Man kann mit Recht fragen, warum solche Anstrengungen nicht auch für die kleinen Leute unternommen werden, die der Mietmarkt in den Ruin treibt. Ernst-Wolfgang Böckenförde, der verstorbene Verfassungsrichter und Rechtsdenker, hat, als er gegen die Abschaffung der Vermögensteuer votierte, den Satz geschrieben: Die Sicherung unbegrenzter Eigentumsakkumulation ist nicht Inhalt der Eigentumsgarantie. Es ist Zeit, die Wahrheit dieses Satzes zu kapieren und Folgen daraus zu ziehen. Eigentum verpflichtet: Das ist das vergessene Fundament des Sozialstaates.