Provinz war einmal ein gutes, wohlklingendes Wort - und zwar auch dann, wenn es nicht, als "Provence", französisch ausgesprochen wurde. Provinz war ein anderes Wort für Heimat. Provinz war die Welt dort, wo man sie sich leisten konnte, wo sie überschaubar und begreifbar war. Provinz war die Welt dort, wo die Menschen sich gut, manchmal zu gut, kannten. Provinz war die Welt abseits der großen Großstädte, also abseits von Berlin, Hamburg, München. Provinz war also fast überall in Deutschland; sie war im Bayerischen Wald und im Ruhrgebiet, an der Nordsee und am Bodensee. Provinz war ein Ausdruck für Kleinteiligkeit und deutsche Vielfalt. Und wer in einer Großstadt heimisch werden wollte, machte die sich zur Provinz und nannte sie dann sein Quartier - Kiez in Berlin oder Veedel in Köln.
Gute Provinzpolitik war nicht eine Politik des beschränkten Horizonts; und Kirchturmpolitik war eigentlich nichts Negatives: Man stieg auf den höchsten Punkt seiner Heimat und traf Entscheidungen, deren Auswirkungen man überschauen konnte. Das war nicht das Schlechteste. Provinz war der Raum der übersichtlichen Lebenseinheiten und der Überschaubarkeit der Machtverhältnisse. Wer die deutsche Provinz gleichsetzte mit dem Ort, wo der Hund begraben ist, der täuschte sich. Da war schon was los, nicht nur in Schützenvereinen. Die deutsche Geschichte war eine Geschichte der Provinz; sie bestand und besteht, zu ihren besseren Teilen jedenfalls, aus den Geschichten der Provinz; und die großen Großstädte bezogen auch daraus ihre Kraft.
Diese Geschichte geht nun, wenn nichts Entscheidendes passiert, zu Ende. In nicht wenigen Gebieten Deutschlands ist sie schon zu Ende. Die hochglänzende Zeitschrift Landlust wird in den Städten gelesen, in der tristen Provinz wird derweil Landfrust geschoben. Die Hauptstraßen von Klein- und Mittelstädten heißen immer noch Hauptstraßen, aber es passiert dort hauptsächlich nichts; man steht und geht dort wie in einer verlassenen Westernstadt. Zum Einkaufen fahren die Leute an den Ortsrand, zum Aldi oder Lidl. Die Praxen schließen, weil junge Ärzte sich Besseres vorstellen können, als Landarzt zu sein. Die Post hat ihre Postämter verkauft, ihre Angebote ausgelagert, in Supermärkte gepfercht oder in Läden, die so unsinnige Namen wie McPaper tragen.
Die Sparkassen, die einst zusammen mit Pfarrhof, Rathaus und Apotheken den Ortskern ausmachten, reduzieren erst ihre Öffnungszeiten und sperren dann ihre Filialen ganz zu - und zwar reihenweise. 66 663 Bankenfilialen gab es 1996 noch in Deutschland. Heute ist es nur noch die Hälfte. Die Sparkassen, sie waren die Banken der Provinz und des kleinen Mannes, schließen ihre Zweigstellen nicht deswegen, weil sie böse sind und weil die Sparkassenstiftung der Musikkapelle keine neuen Instrumente und dem Fußballverein keine neuen Trikots mehr spendieren will; sie schließen deswegen, weil immer weniger Kunden kommen; oft sind es nur zwei pro Stunde. Es zieht dann in die Räumlichkeiten womöglich ein Matratzen-Outlet ein. Solche Läden sind ein Indikator für provinzielle Depression.
Viele frühere Ortskerne verdienen das Wort Kern nicht mehr, sie sind eine Ödnis. Es ist, als sei der Buchsbaumzünsler nicht nur in die Vorgärten, sondern auch in viele Klein- und Mittelstädte eingefallen. Im Zentrum so vieler Dörfer, Märkte und Städte gähnt ein Loch. Außen herum wachsen, gut finanziert von den Sparkassen, die Eigenheimsiedlungen, aus denen die Bewohner zum Arbeiten in die Städte pendeln, so sie nicht gleich ganz wegziehen. Die Harmonie von Arbeit und Leben, die einmal das Kennzeichen der Provinz war, gibt es immer weniger. Weil die Arbeit dort verschwunden ist, verschwindet dort auch das Leben. Wenn die Leute dort noch sind, dann zum Schlafen. Die Provinz ist eine schläfrige Angelegenheit geworden.
Gefragt ist eine kluge Regionalpolitik, die Traditionen pflegt und zugleich für schnelle Datenleitungen bis ins letzte Dorf sorgt
Der Zug in die Ballungsgebiete, die Entvölkerung des Landes, die Vernachlässigung der Provinz - es ist nicht einfach nur ein Zug der Zeit. Es ist auch eine politisch gefährliche Angelegenheit. Bei vielen, die noch da sind, verursacht das ein Gefühl des Abgehängtseins - die Leute fühlen sich entheimatet. Man kann sie nicht damit trösten, dass das Grundgesetz auch eine Heimat ist und Europa auch. Das stimmt zwar, hört sich aber für die Leute in diesem Kontext so an, als wolle man sie veralbern. Wer sich entheimatet fühlt, ist anfällig für politische Radikalisierung.
In der Offensive gegen den populistischen Extremismus spielen daher die Bürgermeister, die Stadt- und Landräte eine wichtige Rolle. Kluge Lokal- und Regionalpolitik lockt nicht einfach nur irgendwelche Investoren in den Ort; sie sorgt auch dafür, dass die alten Gebäude, die dem Städtchen Gesicht und Gepräge geben, erhalten werden und nicht seelenlosen Funktionsbauten weichen. Sie stärkt die Grundversorgung, den sozialen Zusammenhalt und die Traditionen ihrer Bürger - und so ihre Offenheit für die, die neu kommen, auch für Migranten.
Es braucht neue Technik, Glasfaserkabel, schnelle Datenleitungen bis ins letzte Dorf. Die Debatte, was das für die Arbeitswelt bedeutet, hat erst begonnen. Einige Pendelei wird sich dann in Zukunft vermeiden lassen. Die Landflucht könnte zumindest gestoppt werden.
In manchen Orten auf dem Land, dort jedenfalls, wo Tradition noch sehr lebendig ist, gibt es an Festtagen oder vor großen Hochzeiten etwas ganz Besonderes - in Altbayern heißt das "Tagreveille" oder "Tagrevell". Es ist dies ein Brauch des Aufweckens der Festgemeinde, ein musikalischer Weckruf. So einen Weckruf braucht die ganze deutsche Provinz. Der Bundesheimatminister braucht ihn auch.