DDR-Flüchtlinge in Prag:Der Tag, an dem der erste Stein aus der Mauer brach

Vor 30 Jahren flohen Tausende DDR-Bürger in die bundesdeutsche Botschaft in Prag und hofften, von dort aus in den Westen zu gelangen. Dann kam Hans-Dietrich Genscher.

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DDR-FLÜCHTLINGE IN DER DEUTSCHEN BOTSCHAFT PRAG, 1989

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Ende September 1989 war die Lage in der bundesdeutschen Botschaft in Prag dramatisch. Zuerst Hunderte, dann Tausende DDR-Bürger hatten sich in die Vertretung in der tschechoslowakischen Hauptstadt geflüchtet, um von dort aus nach Westdeutschland zu gelangen. Ein Affront gegen die DDR, die versuchte, die Flüchtigen zu einer Rückkehr zu bewegen. Doch diese weigerten sich, legten sogar eine "mehr und mehr militante Haltung" an den Tag, wie sich der damalige Botschafter Hermann Huber später erinnerte. Einige drohten mit Hungerstreik.

DDR-Flüchtlinge am Zaun der deutschen Botschaft in Prag, 1989

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Botschaftsflüchtlinge hatte es auch in den Jahren zuvor immer wieder gegeben, doch der Ansturm im Spätsommer 1989 war kaum zu bewältigen. Noch im Juni lebten gerade mal ein paar Dutzend Menschen dort, in den kommenden Monaten waren es täglich mehr, die sich über den Zaun der Botschaft begaben und dort Schutz suchten. Zuletzt beherbergte die Botschaft an die 5000 Menschen.

DDR-FLÜCHTLINGE IN DER DEUTSCHEN BOTSCHAFT PRAG, 1989

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Die inneren Spannungen in der DDR hatten seit den offenkundigen Wahlfälschungen bei der Kommunalwahl im Mai deutlich zugenommen, es entstand in der Bevölkerung zunehmend ein Klima der Ablehnung, es kam zu offenem Protest. Hinzu kamen bei Kritikern des Landes die Befürchtung, die DDR könne im Vorfeld des 40. Gründungstags am 7. Oktober 1989 ihre sonst offenen Grenzen zur Tschechoslowakei schließen. Waren es zuvor vor allem Menschen, die schon länger unter der Verfolgung durch die Stasi gelitten hatten, kamen Ende September immer mehr Jüngere, die hier noch die möglicherweise letzte Gelegenheit ergreifen wollten, aus dem Land zu kommen.

Fluchtwelle 1989 - Deutsche Botschaft Prag

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Trabi und Wartburg, Autos, auf die DDR-Bürger oft jahrelang hatten warten müssen, ließen die Flüchtenden einfach stehen. Sie standen nun den Tschechoslowaken zur Verfügung - oder wurden eine Sache für den Abschleppdienst.

DDR-FLÜCHTLINGE IN DER DEUTSCHEN BOTSCHAFT PRAG, 1989

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In der Botschaft wurden die Zustände immer kritischer. Der Raum wurde enger, die Nächte kälter und die Zelte, die das Deutsche Rote Kreuz aufgebaut hatte, reichten bei Weitem nicht mehr, um die vielen Menschen unterzubringen. Der damalige Botschafter Huber erinnert sich, dass die DDR-Bürger sogar auf Treppenstufen schlafen mussten. An den wenigen Toiletten bildeten sich Schlangen, in denen Menschen für Stunden warten mussten, manche zogen es da vor, sich einfach irgendwo im Botschaftsgarten zu erleichtern. Die Stimmung unter den Wartenden wurde immer schlechter. Irgendwann war klar: So kann es nicht weitergehen.

Hans-Dietrich Genscher und Wolfgang Seiters in Prag, 1989

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Derweil liefen die politischen Verhandlungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik. Versuche der DDR-Führung, die Menschen zur Rückkehr zu bewegen, führten kaum zum Erfolg. Nur ein paar Dutzend folgten dem Aufruf. Am 30. September dann die Erleichterung. Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (rechts) und Kanzleramtsminister Wolfgang Seiters reisten mit guten Nachrichten nach Prag. Genscher, obwohl von einem Herzinfarkt geschwächt, hatte am Rande der UN-Vollversammlung in New York die Zustimmung des sowjetischen Amtskollegen Eduard Schewardnadse gewonnen, die Botschaftsflüchtlinge in die BRD ausreisen zu lassen. Gemeinsam mit DDR-Außenminister Oskar Fischer einigte man sich darauf, die Flüchtlinge in Sonderzügen nach Westdeutschland zu transportieren - auf einer Strecke durch die DDR. "Mir war klar, jetzt musste ich nach Prag reisen, um die Flüchtlinge zu überzeugen, dass ihnen nichts geschehen wird", sagte Genscher später in einem Interview mit der Augsburger Allgemeinen.

Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der Prager Botschaft, 1989

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Tausende im Botschaftsgarten lauschten gebannt, als Genscher um kurz vor 19 Uhr auf den Balkon der Botschaft trat und verkündete, dass die DDR-Flüchtlinge in wenigen Stunden nach Westdeutschland ausreisen dürften. Als der Außenminister anhob und die Wartenden als "Liebe Landsleute" bezeichnete, brandete erstmals lauter Jubel auf. Genschers Rede wurde immer wieder durch die euphorisierte Masse unterbrochen. Er fuhr fort: "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ..." Der Rest des möglicherweise berühmtesten Halbsatzes der Weltgeschichte ging im Freudengeschrei der Zufluchtssuchenden unter. Genscher bezeichnete den 30. September später immer wieder als besonders emotional, da er 1952 selbst aus der DDR nach Westdeutschland übergesiedelt war.

DDR-Flüchtlinge in einem Sonderzug aus Prag, 1989

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Am Tag darauf, am 1. Oktober, rollte der erste Sonderzug Richtung Westen. Der Transport führte über Dresden ins bayerische Hof, wo er um 6.14 Uhr am Bahnhof ankam. 1210 Botschaftsflüchtlinge waren an Bord. Zeitzeugen berichteten von einer angespannten Atmosphäre. Die Furcht, dass der Zug trotz Genschers Versprechen in der DDR halten würde, war groß. Im Osten kontrollierten Stasi-Offiziere die Abteile, Menschen versuchten, auf den Zug aufzuspringen. Erst als der Zug die Grenzanlagen hinter sich gelassen hatte, brach unter den Passagieren Feierstimmung aus. Ihnen war eine strapaziöse Flucht aus der DDR gelungen. Der 30. September gilt vielen noch heute als der Tag, an dem der erste Stein aus der Mauer brach.

© SZ.de/gal/thba/mcs
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