Prager Balkonrede 1989:"Nur Genscher konnte die Menschen überzeugen"

Am 30. September 1989 informierte der damalige Bundesaußenminister die DDR-Flüchtlinge in der Botschaft in Prag über ihre Ausreise. Lagersprecher Peter-Christian Bürger über die Ungewissheit bis zum Balkon-Moment, flüchtige Hansa-Rostock-Fans und eine Zugfahrt voller Angst.

Interview von Barbara Galaktionow

"Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ..." - so lautet der wohl berühmteste Halbsatz der jüngeren deutschen Geschichte. Der Rest des Satzes des damaligen Bundesaußenministers Hans-Dietrich Genscher am 30. September 1989 ging im Jubel der DDR-Flüchtlinge unter, die in der bundesdeutschen Botschaft in Prag Zuflucht gesucht hatten.

Einer von ihnen war Peter-Christian Bürger, damals 33 Jahre alt. Er kam bereits im Juni 1989 in die Vertretung und erlebte, wie die Zahl der Flüchtenden in etwa drei Monaten von einem versprengten Häuflein auf Tausende anwuchs. Im Interview erzählt er, warum er selbst es in der DDR nicht mehr ausgehalten hatte, was er als Sprecher der Botschaftsflüchtlinge erlebte und wie er Genscher sein Megafon überließ.

SZ: Sie waren 1989 in der Botschaft in Prag, als Genscher seinen berühmten Halbsatz zur Ausreise gesagt hat. Wie haben Sie diesen Moment erlebt?

Peter-Christian Bürger: Ich war unglaublich bewegt. Ich stand mit oben auf dem Balkon, etwa zwei Meter von Genscher entfernt.

Sie waren mit auf dem Balkon?

Ich war Sprecher der Zufluchtsuchenden. Als Genscher in die Botschaft kam, wurde er am Eingang von den Botschaftsmitarbeitern empfangen, und da war ich eben auch mit dabei. Gemeinsam sind wir dann hoch in den Saal gegangen - und wenig später hat er seine Rede gehalten.

Wo genau standen Sie denn?

In der Balkontür links hinter Genscher, in dritter Reihe. Auf den Fotos bin ich daher leider nicht zu sehen.

War Ihnen damals schon klar, dass es sich um einen historischen Moment handelt?

Dass wir dort Geschichte schreiben, daran habe ich damals gar nicht gedacht. Das war auch überhaupt nicht absehbar. Es waren in allererster Linie rein persönliche Empfindungen, die mich bewegten.

Warum wollten Sie die DDR verlassen?

Ich war in der Kirche - und in der Jungen Gemeinde wurden wir von der Stasi beobachtet und verfolgt. Ich habe mehrere Ausreiseanträge gestellt. Sie wurden alle abgelehnt. Danach nahmen der Druck und die Repressalien zu. Ich durfte beispielsweise einen Jugendclub nicht weiterführen, in dem wir Musik- und Tanzabende gemacht haben. 1986 wurde ich verurteilt wegen eines gescheiterten Fluchtversuchs. Ein vermeintlicher Freund hatte mich verraten. Bis November 1987 saß ich in Stasi-Haft. Nach meiner Entlassung war ich sozial komplett isoliert. Ich wollte die DDR immer noch verlassen, jetzt umso mehr. Aber ich wusste nicht, wie ich das bewerkstelligen sollte.

Wie kamen Sie dann auf die Idee, sich in die bundesdeutsche Botschaft in Prag abzusetzen? Sie flüchteten ja bereits im Juni 1989 - lange bevor im September der große Ansturm erfolgte.

Ich hatte durch Zufall Anfang Juni in den "Tagesthemen" einen ganz kurzen Bericht gesehen, dass sich in der bundesdeutschen Botschaft in Prag einige Zufluchtsuchende aus der DDR aufhalten, die dort ihre Ausreise erzwingen wollen. Das war eine ganz kurze Randnotiz. Aber für mich persönlich wie ein Fingerzeig von oben, der mir gesagt hat: Das ist deine Chance.

Haben Sie mit jemandem über Ihre Fluchtpläne gesprochen?

Nein. Nach dem, was ich Vorfeld erlebt habe und nach den Erfahrungen in der Haft, habe ich niemandem mehr vertraut.

Sie sind dann auch alleine geflohen. Wie sind Sie vorgegangen?

Theoretisch durfte jeder DDR-Bürger über den kleinen Grenzverkehr in die ČSSR reisen, nur mit dem Ausweis. Für mich war das nicht möglich: Ich hatte nach der Haft keinen Ausweis mehr, sondern nur eine sogenannte Legitimationsbescheinigung. Ich bin im Erzgebirge bei Oberwiesenthal bei Nacht und Nebel über die grüne Grenze gekrabbelt und habe mich im Wald versteckt. Vom ersten tschechischen Ort aus bin ich mit dem Bus nach Prag gefahren. Am 21. Juni bin ich dort angekommen.

Zeitzeuge Peter-Christian Bürger

Die ARD-"Tagesschau" befragte am 27. September 1989 Peter-Christian Bürger durch den Zaun der bundesdeutschen Botschaft. Hier ein Screenshot aus dem TV-Beitrag.

(Foto: Screenshot privat)

Sind Sie über den Zaun geklettert, wie man es ein paar Wochen später in so vielen TV-Berichten gesehen hat?

Nein, ich bin einfach durch die Tür reingegangen. Die Deutsche Botschaft war zu dem Zeitpunkt noch ganz normal geöffnet. Ich habe mich an der Pförtnerloge gemeldet. Ab Mitte Juli wurde die Botschaft für den öffentlichen Besucherverkehr geschlossen - die Leute mussten hintenrum durch den Park und über den Zaun klettern.

Sie waren nun in der Botschaft, wussten ja aber nicht, wie es weitergeht. Wie haben Sie sich gefühlt?

Mir ist erst mal ein riesengroßer Stein von der Brust gefallen. Auf dem Weg dorthin habe ich ja immer damit rechnen müssen, in eine Ausweiskontrolle zu geraten. Auf mir lag ein ungeheurer Druck, der ist dann abgefallen. Ich habe mich das erste Mal seit langer, langer Zeit sicher gefühlt. Außerdem war es eine unglaubliche Befreiung für mich, dass ich mit anderen offen reden konnte. Gerade am Anfang, zu dem Zeitpunkt waren wir nur etwa 40 DDR-Flüchtlinge, da haben wir tagsüber draußen gesessen auf der Bank und haben uns unser Leben erzählt. Und alle, die zu dem Zeitpunkt da waren, hatten ähnliche Repressionsgeschichten hinter sich wie ich, Berufsverbote, Zwangsexmatrikulationen und Ähnliches. Die Ungewissheit, die war tatsächlich da, aber wir wussten, dass die Bundesregierung uns als Deutsche nicht einfach wieder rausschmeißt und dass das Auswärtige Amt an einer Lösung arbeitet.

Wie wurden Sie zum Sprecher der Flüchtlinge?

Ende Juli kam der zuständige Botschaftsmitarbeiter, Hans-Joachim Weber, zu uns und sprach, ja schimpfte mit uns. Die Zahl der Zufluchtsuchenden war mittlerweile auf etwa hundert angewachsen, peu à peu wurden es immer mehr, mal kam einer über den Zaun gesprungen, zwei Tage später eine kleine Gruppe von drei, vier Leuten oder auch eine ganze Familie. Weber erklärte uns, dass es nicht gehe, dass jeder von uns jederzeit in sein Büro gerannt komme, wir müssten uns organisieren. Wir haben dann eine sogenannte Lagerleitung gegründet, insgesamt zehn Personen. Einige von ihnen sollten zum Beispiel am Zaun Wache halten. Ich wurde ausgewählt, den Kontakt zu Herrn Weber zu halten. Ich habe alles gesammelt, was die Zufluchtsuchenden bewegte oder was sie brauchten, und einmal am Tag mit ihm darüber gesprochen.

"Dein Megafon kommt - aber das brauchst du nicht mehr"

Hatten Sie noch andere Aufgaben?

Mitte August haben wir die ersten Zelte vom Deutschen Roten Kreuz geliefert bekommen und im Garten aufgebaut. Wir haben die Neuankömmlinge untergebracht und ihnen Schlafsäcke, Decken und Verpflegung gebracht. Wir hatten im Keller diese EPA-Kost von der Bundeswehr gestapelt und jeder bekam am Tag so einen Karton mit einer Vollverpflegung. Zudem sind wir täglich herumgegangen, von Zelt zu Zelt, haben mit den Leuten gesprochen über Probleme, Sorgen. Irgendwann kam Herr Weber zu mir und übergab mir einen Schlüssel, eine Schreibmaschine und einen Stapel Papier. Dann wies er mir einen kleinen Blechcontainer im Garten als Büro zu und sagte: "Ab heute übernimmst du auch die Registratur der Neuankömmlinge."

Wie war die Stimmung unter den Menschen? Auf dem Botschaftsgelände wurde es ja mit der Zeit immer enger. Kam es da zum Lagerkoller?

Nein, Lagerkoller hat es zum Glück nicht gegeben. Alle waren erst mal wahnsinnig froh, dass sie es bis dahin geschafft hatten. Es herrschte ein großer Zusammenhalt zwischen uns allen. Ende September schlug allerdings das Wetter um, es fing an zu regnen, da wurde es richtig ungemütlich. Ein Thema war außerdem, dass die Zufluchtsuchenden immer jünger wurden. Als ich ankam, waren die meisten zwischen 30 und 40. Das hat sich dann verändert. Wir hatten zum Beispiel so eine Situation, da kam eine komplette Fangruppe vom FC Hansa Rostock an. Die hatten ein Europapokalspiel gegen Baník Ostrava in der Tschechei und waren in einem Sonderzug unterwegs. Über 150 Fans kamen dann zu uns in die Botschaft, viele junge ganz spontan. Und natürlich in Fanklamotten.

Wie hat das dann die Stimmung verändert?

Die jungen Leute waren mehr auf Party machen ausgelegt. Die haben das halt lockerer gesehen, die ganze Situation. Sie haben auch versucht, Alkohol ins Lager zu schmuggeln, obwohl wir das strikt untersagt hatten. Da haben wir mit den Leuten geredet und ihnen klargemacht, dass sie durch solche Aktionen unser gemeinsames Ziel, in die Bundesrepublik auszureisen, stark gefährden. Das hat ganz gut funktioniert.

Trotzdem wurden die Bedingungen, unter denen Sie dort lebten, mit der wachsenden Zahl an Flüchtlingen ja immer schwieriger. Ich habe gehört, man musste zwei Stunden anstehen, um auf die Toilette zu gehen?

Das ist für die letzten Tage vor der Abreise sogar noch untertrieben. Die sanitären Bedingungen waren eine Katastrophe, das ging schon los ab 500, 600 Leuten. Wir hatten auf dem gesamten Botschaftskomplex einschließlich Gebäuden nur 24 Toiletten und zwei Duschräume. Aber wir mussten uns damit arrangieren. Am 26. September waren wir 1300 Menschen in der Botschaft, und am 30. September, als Genscher kam, da waren wir fast 5000. Da war alles kurz vor dem Zusammenbrechen. An Registratur war überhaupt nicht mehr zu denken. Wir waren nur noch damit beschäftigt, die Leute irgendwo unterzubringen, ihnen Schlafsäcke, Decken und etwas zu essen zu geben. Am Ende war es sogar so, dass die Leute auf den Stufen im Gebäude geschlafen haben, in Zweierreihen und in Schichten.

Peter-Christian Bürger

Peter-Christian Bürger heute: Nach seiner Flucht lebte er viele Jahre vor allem in Bayern, aber auch in Österreich, Südtirol und Spanien. Dort arbeitete er in seinem erlernten Beruf als Restaurantfachmann, später auch als Koch und Berufsschullehrer für Köche. Nach 20 Jahren kehrte er aus persönlichen Gründen ins sächsische Chemnitz zurück. Heute hat Bürger eine Vielzahl von Ehrenämtern inne: Unter anderem ist er Mitglied im Vorstand des Lern- und Gedenkorts Gefängnis Kaßberg, Mitglied im Menschenrechtszentrum Cottbus sowie im Beirat Revolution und Demokratie der sächsischen Staatskanzlei. Außerdem engagiert er sich für Flüchtlinge im Nordirak.

(Foto: privat)

Während immer mehr DDR-Bürger sich in die Botschaft flüchteten, liefen ja im Hintergrund die Verhandlungen zwischen den Vertretern beider deutscher Staaten. Am 30. September ist dann der bundesdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher völlig überraschend nach Prag angereist. Wussten Sie da gleich: Heute ist der entscheidende Tag?

Ich hatte einen Tag vorher bei Herrn Weber ein Megafon bestellt, ich konnte ja bei dieser Masse an Menschen gar nichts mehr ansagen. Am nächsten Vormittag, am 30. eben, bin ich zu Weber ins Büro gegangen und habe gefragt: "Hans, wie schaut's aus, bekomme ich heute mein Megafon?" Da nickte er und sagte: "Ja, das kommt, aber das brauchst du nicht mehr." Ich habe gesagt: "Wie, das brauche ich nicht mehr - du siehst doch, was hier los ist." Und da hat Weber mir erzählt, dass Genscher auf dem Weg nach Prag ist. Genscher war zuvor in New York, wo er bei der UN-Generaldebatte gesprochen hat, und außerdem schwer herzkrank - und trotzdem kam er nun nach Prag. Da war es klar, dass es eine Lösung gibt. Aber wie die aussehen sollte, das wusste nicht mal der Weber.

Und wie war es dann, als Genscher ankam?

Genscher hat sich erst kurz mit dem Botschafter besprochen. Uns hat er schon gesagt: "Wir haben's geschafft. Die Menschen dürfen raus" - das war der entscheidende Satz. Dann haben wir den Balkon hergerichtet. Einer der Hausmeister und ich haben aus dem Büro vom Botschafter eine Stehlampe geholt und die auf dem Balkon installiert. Und das Megafon, das ich bestellt hatte, das war plötzlich auch da. Das haben wir da so provisorisch an der Brüstung befestigt. Genscher ist mit seiner Delegation auf den Balkon getreten. Unten im Hof standen all diese Menschen und haben auf ihn gewartet und gejubelt. Er hat erst mal die Leute begrüßt, explizit die Hallenser - er selbst stammte ja ursprünglich aus Halle. Das wussten die Leute natürlich. Genscher hatte ein sehr hohes Ansehen bei den Menschen in der DDR. Und dann sprach er seinen historisch gewordenen Halbsatz.

Nach der Rede ging es ganz schön schnell weiter.

So um 19 Uhr war die Ansprache von Genscher. Es hat dann gerade einmal zwei Stunden gedauert, da kamen die Busse, die uns von der Botschaft zum Bahnhof in Praha-Libeň gebracht haben. In dieser Zeit haben die Leute in völliger Euphorie schnell alles Notwendige gepackt - wenn sie was zusammenzupacken hatten. Ich hatte nur das, was ich am Leib trug. Ich bin mit dem letzten Zug mitgefahren.

Die DDR hatte sich ausbedungen, dass die Züge über ihr Gebiet fuhren. Hatten Sie Angst, dass da etwas passiert?

Ich bin durch meine ganze Geschichte sicherlich kein ängstlicher Mensch. Aber das war die schlimmste und schrecklichste Zugfahrt meines ganzen Lebens. Ich habe die ganzen Stunden bis nach Hof nicht eine Sekunde gesessen, sondern immer geguckt, was sich da tut - wenn der Zug langsamer wurde oder sogar stehen blieb. Ich hatte keinerlei Vertrauen mehr in die DDR-Führung - und nicht nur ich. Als Genscher den Menschen im Garten erklärte, dass die Züge durch die DDR fahren werden, gab es einen großen Aufschrei: "Nein, niemals!" Wenn es nicht Hans-Dietrich Genscher gewesen wäre, der da oben stand und den Menschen sein persönliches Ehrenwort gab, dass alle gesund und munter in der BRD ankommen würden und dass in jedem Zug ein Mitarbeiter der Bundesregierung anwesend sein würde - die Menschen wären nicht in die Züge eingestiegen. Nur Genscher konnte die Menschen überzeugen.

Wie war Ihre Ankunft in der Bundesrepublik?

Wir sind gegen Mittag in Hof angekommen. Es war ein einziger Freudentaumel. Wir sind von der Bevölkerung euphorisch empfangen und gefeiert worden. Auf dem Bahnsteig, auf den Bahnhofstreppen, im Bahnhofsgebäude, überall standen Menschen mit Tabletts, mit Kuchen, mit Kaffeekannen. Im Bahnhofsgebäude hatten verschiedene Hilfsorganisationen Stände mit Klamotten aufgebaut, so dass wir uns ein sauberes Hemd, eine saubere Jacke aussuchen konnten. Es war eine ungeheure Hilfsbereitschaft zu spüren. Ich war völlig hingerissen.

Im Sommer 2015 gab es in Deutschland ähnliche Bilder. Auch damals wurden Flüchtlinge - wenn auch aus ganz anderen Ländern - von vielen Deutschen mit großer Hilfsbereitschaft begrüßt. Wie haben Sie das damals erlebt?

Die Bilder haben mich tief bewegt und ich hatte das Bedürfnis, diese Menschen ebenfalls willkommen zu heißen. Später, als die ersten Proteste aufkamen, habe ich manchmal darüber nachgedacht, was wohl aus uns Menschen aus der DDR geworden wäre, wenn die Bundesbürger auch gegen uns protestiert hätten, statt uns willkommen zu heißen und uns zu helfen.

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