Präsidentschaftswahlen in Ägypten:Boykott als letzte Wahl

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Militär gegen Islamisten, Schafik gegen Mursi - die Präsidentschaftswahlen in Ägypten sind eine Neuauflage der klassischen Konfrontation. Viele enttäuschte Ägypter wollen bei der Abstimmung jedoch weder dem einen noch dem anderen Lager ihre Stimme geben.

Sonja Zekri, Kairo

Manche sagen, der größte Dienst an der ägyptischen Demokratie wäre jetzt der Boykott. Am Samstag oder Sonntag zur Wahl zu gehen und den Wahlschein ungültig zu machen. Weder soll Ahmed Schafik die Stimmen bekommen, früher Luftwaffenkommandeur, Luftfahrtminister und letzter Regierungschef des gestürzten Präsidenten Hosni Mubarak, noch Mohammed Mursi, der Kandidat der Muslimbrüder. Die Stichwahl zwischen einem Wiedergänger des alten Regimes und einem Islamisten ist keine, sagen sie. Und sie ist es noch weniger nach den jüngsten Urteilen des Verfassungsgerichtes, das auf die Auflösung des Parlaments hinausläuft, aber Schafik den Weg zum obersten Staatsamt freigeräumt hat. Und das die Militärherrschaft über die versprochene Machtübergabe Anfang Juli verlängern könnte.

Ägypter protestieren, nachdem das Verfassungsgericht verfügt hat, das Parlament aufzulösen. (Foto: dpa)

Tamer Samir beispielsweise geht nicht wählen. "Selbst wenn dadurch Mursi gewinnen sollte, ich würde mich nicht schuldig fühlen", sagt er, "von denen bekommt keiner meine Stimme." Tamer, 35, leitender Angestellter eines Unternehmens für Kreditkarten, sitzt nach Feierabend im Café im Kairoer Viertel Schobra. Die Backgammon-Steine knallen, die Wasserpfeifen gluckern, aber die Stimmung ist bedrückt. Tamer ist Christ und eine Ausnahme. Die meisten Christen nämlich haben im ersten Wahlgang für Schafik gestimmt und werden es im zweiten ebenfalls tun. Ägyptens Christen machen etwa zehn Prozent der Bevölkerung aus, und ganze Dörfer, so heißt es, haben im ersten Wahlgang für Schafik gestimmt. Für Tamer eine Katastrophe: "Das Militär ist schuld am Chaos in Ägypten, und nun soll ich einen Uniformieren wählen, um genau dieses Chaos zu beseitigen?", spottet er.

Es war kein leichtes Jahr für die Kopten: Kirchen brannten, Christen starben als das Militär Proteste vor dem Fernsehzentrum niederwalzte. Die Parlamentswahlen bescherten den Islamisten beängstigende 70 Prozent der Sitze, auch wenn dies nach dem Urteil des Verfassungsgerichts wohl nicht so bleibt. Als im März auch noch Papst Schenuda starb, fühlten sich die Christen noch schutzloser.

Eben deshalb fürchtet Rami Samir, 34, kugelrund, Manager einer Bekleidungsfirma, Defätisten wie Tamer und wirbt, wo es geht für Schafik. Nicht, dass der sein Traumpräsident wäre. Auch Rami will nach sechzig Jahren Militärherrschaft endlich einen Zivilisten an der Spitze Ägyptens, nicht schon wieder einen Kriegshelden, der dem Militärrat viel zu nah ist. Natürlich hat auch er den Sturz Mubaraks begrüßt: "Diese jungen Leute auf dem Tahrir-Platz haben uns klein aussehen lassen", sagt er. Und jetzt Schafik? Den Law-and-Order-Krakeeler, der Proteste in 24 Stunden wegfegen lassen will? Der unter Korruptionsverdacht steht? Der Mubarak als Vorbild sieht?

Rami sagt: "Eine Revolution braucht Zeit. Die Menschen sind noch nicht bereit für die Demokratie." Er sagt: "Zugegeben, Schafik ist eine Wiederauflage des alten Systems." Er sagt aber auch: "Wir haben keine Wahl." Die Muslimbrüder reden mal von einer Sonderabgabe für Nicht-Muslime, dann wieder von der Einheit Ägyptens. Rami traut ihnen alles zu.

Die koptische Geistlichkeit hat nicht offiziell für den Mubarak-Mann Schafik geworben, aber doch keinen Zweifel daran gelassen, dass der Islamist Mursi um jeden Preis verhindert werden muss. Während des Aufstandes gegen Mubarak vor 16 Monaten war der koptische Klerus an der Seite der Würdenträger des Regimes marschiert. So eng waren das alte System und die koptische Kirche verbunden, dass die Folgen für normale Christen "desaströs" waren, schreibt der ägyptische Historiker Magdi Guirguis: Viele Ägypter sahen die Kirche als eine der korrupten Institutionen. Hieven sie nun den Mubarak-Mann Schafik ins Amt, könnte man sie für die Wiederkehr des alten Systems verantwortlich machen, fürchtet der Radikal-Demokrat Tamer. "Schafik wird in vier Jahren gehen, aber die Bruderschaft werden wir nicht mehr los", sagt hingegen der Radikal-Pragmatiker Rami.

Der Augenarzt Chaled Hanafi sieht das naturgemäß anders. Hanafi ist seit 30 Jahren Mitglied der Muslimbrüder, er war für die Bruderschaft im Gefängnis, er zog für ihre Partei Freiheit und Gerechtigkeit ins Parlament ein. Und er könnte sein Mandat nach dem Gerichtsurteil nun wieder los sein. Die Ängste der Christen, der Frauen und Liberalen begreift er nicht. Es gebe keinen Konflikt zwischen demokratischem und islamischem Staat, beschwichtigt er: Niemand wolle Frauen verschleiern, niemand anderen ein frommes Leben aufzwingen. Trotzdem wäre dem Militärrat jeder andere Kandidaten lieber gewesen als Mursi, sagt er: "Denn einzig die Institution der Muslimbrüder ist stark genug, um das alte System zu ersetzen". Ein paar Sätze später schiebt er nach: "Natürlich gemeinsam mit anderen."

Viele glauben ihnen nicht mehr. Die Muslimbrüder haben an Popularität dramatisch eingebüßt. Gibt es nach einer Auflösung des Parlaments als Folge des Verfassungsgerichtsurteils wirklich demnächst Wahlen zu einer oder beiden Kammern der Volksvertretung, dürften sie kaum noch jene knapp 50 Prozent holen wie bei den Wahlen im Winter. "Die Menschen hatten überzogene Erwartungen", sagt Chaled Hanafi: "Sie dachten, wir hätten einen Zauberstab, um alle Probleme zu lösen."

Keine erneuten Proteste auf dem Tahrir-Platz

Erst einmal aber soll Ägypten am Wochenende einen Präsidenten wählen. Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts haben die Muslimbrüder erklärt, das Land stehe vor einer Situation, die "gefährlicher ist als in den letzten Tagen der Mubarak-Herrschaft". Dennoch haben sie ihre Anhänger nicht aufgerufen, auf dem Tahrir-Platz gegen die Gerichtsentscheidung zu protestieren. Demokratische Jugendbewegungen wie der "6. April" hatten zu Protesten aufgerufen, aber am Nachmittag war der Platz noch leer.

Präsidentschaftskandidat Mursi gab sich dennoch unverdrossen als Garant revolutionärer Werte. In einem Fernsehinterview nach dem umstrittenen Urteil des Verfassungsgerichtes sagte er: "Wir gehen zu den Wahlurnen, um nein zu sagen zu den Verlierern, den Mördern, den Verbrechern." Schafik, der Mubarak-Mann, wiederum warnte vor dunklen Zeiten, sollten die Muslimbrüder gewinnen. Es ist eine Neuauflage der klassischen Konfrontation zwischen Militär und Islamisten. Chaled Hanafi sieht ihr gelassen entgegen: "Sie können uns niemals zerschlagen. Wir sind zu nah an der Kultur Ägyptens, an den Menschen und ihren Gefühlen."

© SZ vom 16.06.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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