Präsidentschaftswahl unter Erdoğan:Wie Türkeistämmige in Deutschland wählen

Wahlen Türkei · Stimmabgabe in Stuttgart

Wählen die Deutschtürken mehrheitlich konservativ? Ein Mann gibt in einem Wahllokal für die türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in Stuttgart seine Stimme ab.

(Foto: dpa)

Nur Gauland ist unbeliebter als Erdoğan, aber die AKP sahnt trotzdem ab: Wie Türkeistämmige in Deutschland wählen - und warum. Ein Überblick in Grafiken.

Von Jana Anzlinger

Die Hamburger jubeln dem Redner zu, viele fotografieren und filmen, fast jeder schwenkt eine rote Fahne mit Mondsichel und Stern. Türkischer Wahlkampf in Deutschland: Vor einem Jahr strapazierte das Thema die deutsch-türkische Beziehung erheblich. Am Ende blieb es bei wenigen Auftritten wie dem des Außenministers Mevlüt Çavuşoğlu (AKP), der seine Rede im Hamburger Generalkonsulat hielt. Vor den vorgezogenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 24. Juni ist nun der Konflikt entgegen vieler Befürchtungen nicht wieder hochgekocht.

Es scheint nur auf den ersten Blick verwunderlich, dass türkische Politiker in Düsseldorf oder Berlin Wahlkampf machen wollen. Tatsächlich ist die Wählerschaft in Deutschland groß - und gerade für die Regierungspartei AKP attraktiv. Wie tickt diese Wählerschaft? Wen wählten Türkeistämmige in Deutschland bisher und was lässt sich daraus für die bevorstehende Wahl ableiten?

Insgesamt leben fast drei Millionen Türkeistämmige in Deutschland, nirgendwo sonst ist die Diaspora so groß. Knapp 1,5 Millionen sind türkische Staatsbürger, von denen etwa 1,44 Millionen wahlberechtigt sind. Das sind mehr als zwei Prozent aller in der Türkei zur Wahl Berechtigten.

Sie hatten vom 07. bis zum 19. Juni Zeit, in einem der 13 Wahllokale in deutschen Konsulaten und der Berliner Botschaft in Deutschland ihre Stimme abzugeben. Am Mittwochmorgen vermeldete die Wahlkommission, dass die Beteiligung in Deutschland bislang bei 49,7 Prozent liegt. Sie könnte bis Sonntag noch leicht ansteigen, da an Flughäfen und Grenzübergängen noch gewählt werden darf. Der Wahltag im Mutterland ist der 24. Juni.

Zum ersten Mal durften türkische Staatsbürger in Deutschland 2014 an den türkischen Präsidentschaftswahlen teilnehmen. Damals waren allerdings die bürokratischen Hürden noch hoch. Deshalb machten nur acht Prozent von ihrem Recht Gebrauch - wovon mehr als zwei Drittel für Recep Tayyip Erdoğan stimmten. Die Wähler in der Türkei waren viel gespaltener, dort gewann Erdoğan mit einer hauchdünnen Mehrheit.

Bei den Parlamentswahlen 2015 war die Wahlbeteiligung deutlich höher - und das, obwohl Türkeistämmige weltweit zweimal innerhalb von fünf Monaten an die Urnen mussten, da die gescheiterte Regierungsbildung eine Neuwahl erforderte. Trotz oder gerade wegen der damals aufgeheizten Stimmung stieg die Beteiligung in Deutschland von 34 Prozent im Juni auf mehr als 40 Prozent im November - und brachte Erdoğan in der Bundesrepublik einen überwältigenden Erfolg.

Der türkische Präsident erhielt hier deutlich mehr Zustimmung als in seiner Heimat. Auch die prokurdische HDP schnitt überproportional gut ab. Die kemalistische Mitte-links-Partei CHP und die ultrarechte MHP waren hier eher unbeliebt.

Es ist aber keineswegs so, dass Emigrierte überall konservativ und Erdoğan wählen. In keinem anderen Land ist die AKP bei Wahlen so erfolgreich, wie etwa die größte englischsprachige Zeitung in der Türkei Daily Sabah umfassend ausgewertet hat.

Als Grund für die Beliebtheit von AKP und HDP gilt, dass Türkeistämmige in Deutschland deutlich entlang ihrer familiären Herkunft wählen - und die unterscheidet sich innerhalb der Gruppe der Türkeistämmigen.

In den 60ern lud die Bundesrepublik sogenannte "Gastarbeiter" ein. Es kamen Zehntausende, von denen viele in ihrer neuen Heimat blieben. Seit den 80ern nimmt Deutschland aber auch zum Beispiel alevitische und kurdische Flüchtlinge auf. Inzwischen leben je mehr als eine halbe Million Aleviten und Kurden in Deutschland. Diese würden sich - wie zum Beispiel auch die mehr als Hunderttausend Armenier - eher als "türkeistämmig" bezeichnen denn als "türkischstämmig".

Die Einwanderer aus den 60ern gelten als eher konservativ, da viele vom Land und aus islamisch-konservativen Gegenden in Anatolien stammen. Ihre Prägung überträgt sich oft auf Kinder und Enkel. Kurden hingegen wählen eher die prokurdische HDP - und türkeistämmige Kurden, die vor der Diskriminierung nach Deutschland fliehen mussten, erst recht. Diese generellen Unterschiede bedeuten nicht, dass etwa jeder Kurde in Deutschland HDP wählt. Aber in der Summe wählen eben Kurden mehrheitlich HDP. Wären Tausende bayerische Dorfbewohner und Tausende Berliner Hipster gemeinsam in ein bestimmtes Land ausgewandert, würde dieses Land bei der Bundestagswahl wohl auch in zwei Richtungen aus dem Rahmen fallen.

Beim Verfassungsreferendum im vergangenen November demonstrierten viele Wähler in Deutschland nochmals Verbundenheit mit Erdoğan. Die Abstimmung hat eine umfassende Verfassungsreform erlaubt, die dem Präsidenten mehr Macht gibt. Die Mehrheit für "evet" ("Ja") war denkbar knapp: Insgesamt stimmten kaum mehr als 51 Prozent für die Reform. Die Wähler in Deutschland, die die Verfassungsänderung nicht direkt betrifft, hatten weniger Probleme mit ihr: Fast zwei Drittel von ihnen stimmten mit "Ja".

Auf diese Erdoğan-Treue in Deutschland reagierten allerdings viele Türkeistämmige erschrocken. Die Türkische Gemeinde in Deutschland, eine Dachorganisation türkischer Verbände, gab nach dem Referendum besorgte Stellungnahmen ab: "Wir - also die Parteien und Organisationen - müssen das Ergebnis genau analysieren", sagte ihr Vorsitzender Gökay Sofuoğlu, "und Wege finden, wie man diese Menschen besser erreicht, die in Deutschland in Freiheit leben, aber sich für die Menschen in der Türkei die Autokratie wünschen".

Tatsächlich scheint die Diaspora in Deutschland bei dem Thema aber doch eher gespalten: Einige Gruppen weichen stark ab. Viel spricht dafür, dass sich vor allem AKP-Freunde mobilisieren lassen - während die schweigende Mehrheit zwar nicht einverstanden ist, aber auch nicht zur Wahl geht. In einer repräsentativen Umfrage unter deutschen und doppelten Staatsbürgern zeigte sich das besonders deutlich. So befürworteten unter denen, die neben der türkischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft haben, nur 22 Prozent die Verfassungsreform. Unter Aleviten in Deutschland waren es sogar nur drei Prozent.

Die Wahlbeteiligung bei dem historischen Referendum lag in Deutschland bei mickrigen 46 Prozent - die Mehrheit stimmte also gar nicht ab. In der Türkei gingen hingegen 85 Prozent der Wahlberechtigten zur Abstimmung.

Belegt das Abstimmungsverhalten der Türkeistämmigen in Deutschland also eine grundsätzlich konservative Haltung? Nicht ganz, wie Umfragen zur deutschen Politik belegen.

Nur Gauland ist unbeliebter

Keine Groko, sondern eine rot-rote Regierungskoalition mit Union und Grünen als einziger Opposition: So sähe der Bundestag aus, wenn ihn nur Türkeistämmige wählen würden.

Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Befragung nach der letzten Bundestagswahl. Für diese haben drei nordrhein-westfälische Politikwissenschaftler eine repräsentative Stichprobe von türkeistämmigen doppelten und deutschen Staatsbürgern aus ganz Deutschland gezogen, die bei der Bundestagswahl wahlberechtigt waren. Eines der Resultate, das ihnen besonders aufgefallen ist: "Das Wahlergebnis in der Gruppe der Deutschtürken unterscheidet sich erheblich zwischen erster und zweiter Generation." Die Kinder von Einwanderern wählten häufiger SPD und seltener Union und Linke als die selbst Eingewanderten.

Präsident Erdoğan hatte also vergeblich dazu aufgerufen, nicht für die "Türkeifeinde" CDU, SPD oder Grüne zu stimmen.

Unter Kurden schnitt die Linke mit 37 Prozent erwartungsgemäß gut ab. Doch trotz des Klischees vom linken Kurden wählte fast jeder dritte von ihnen Union. Die von einem deutsch-türkischen Unternehmer gegründete ADD, der eine Nähe zur Erdoğan-Regierung unterstellt wird, wählten 12 Prozent der Türkeistämmigen in Nordrhein-Westfalen.

Für alle Gruppen gilt aber: Sie wählen deutlich weniger konservativ als es die Ergebnisse von Wahlen in der Türkei vermuten ließen.

Dieselbe Umfrage zeigt, dass unter doppelten und deutschen Staatsbürgern nicht gerade ein Erdoğan-Kult herrscht. Auf einer Skala von -5 bis 5 schnitt der Präsident bei allen Gruppen negativ ab - im Gegensatz zu Angela Merkel und SPD-Kandidat Martin Schulz, die ähnlich positive Werte erreichen wie unter anderen Deutschen. Unbeliebter als Erdoğan ist nur der AfD-Politiker Alexander Gauland. Unter Kurden und Aleviten ist der AKP-Präsident sogar unbeliebter als der deutsche Rechtspopulist.

Was sagen die Stimmzettel, die in den vergangenen Tagen in 13 Orten in Deutschland in den Urnen gelandet sind? Sicher lässt sich das erst nach der Auszählung am Sonntag sagen. Wahlumfragen in Deutschland gibt es nicht.

Die Umfragen in der Türkei selbst deuten jedoch darauf hin, dass es für das Wahlbündnis von Erdoğan relativ knapp werden könnte. Es scheint deutlich unter 50 Prozent der Stimmen zu bleiben. Das könnte erfahrungsgemäß in Deutschland anders sein.

Besonders wichtig wird das Abschneiden der HDP: Kommt sie über zehn Prozent und zieht damit ins Parlament ein, könnte die Opposition insgesamt etwa so stark werden wie die AKP und ihr Bündnispartner MHP. Hier könnten deutsche Kurden einen Unterschied machen. Die HDP dürfte gerade nach der Verschärfung der Spannungen zwischen Kurden und Türken in vielen deutschen Städten Zulauf bekommen.

Und auch in der Stichwahl, der sich Erdoğan vermutlich stellen muss, könnte es für den Amtsinhaber relativ knapp werden - wenn sich die Opposition vereint hinter den Gegenkandidaten stellt. Die zwei Prozent der Wählerstimmen, die aus Deutschland kommen, könnten deshalb eine entscheidende Rolle für den Ausgang der Wahlen spielen.

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