Präsidentschaftswahl in Venezuela:Der Anti-Comandante

Lesezeit: 5 min

Hugo Chávez will in Venezuela seine vierte Wahl gewinnen. Zum ersten Mal hat er einen echten Rivalen, Henrique Capriles. Dessen Gefolgschaft wächst mit der Enttäuschung über den Präsidenten.

Peter Burghardt, Caracas

Sein Name und sein Bild sind immer noch überall in Caracas, und gleich wird er sich leibhaftig zeigen. Hugo Chávez Frías, Venezuelas Präsident seit 1999. Sozialist und Revolutionär im Namen des Befreiers Simón Bolívar. Herrscher über die größten Ölfelder der Welt. Comandante und Patient der Nation. Sponsor halb Lateinamerikas. Umstrittenster Lautsprecher der Region.

Die deprimierenden Wohnblöcke und Ziegelhütten von Catia im Westen der Hauptstadt sind mit seinen Porträts tapeziert, als er sich an einem schwülen Nachmittag seinen Fans nähert. "Chávez, Herz meines Vaterlands" steht auf Plakaten, mit dem Spruch will er am Sonntag seine vierte Wahl gewinnen. "Uh, ah, Chávez no se va", reimen Einpeitscher, Chávez geht nicht. Seine Gemeinde trägt Rot, Minister werfen bunte Leibchen aus einem Lkw. Minister gehen in Stellung. "Hier kommt der bolivarische Hurrikan", schreit eine Stimme aus dröhnenden Boxen. Dann ist er da.

Verehrt und gehasst

Hugo Chávez, 58, wird von seinen Bewachern durch die Menge geschoben, ein mittelgroßer Mann in blauer Jacke über rotem Shirt. Frauen kreischen, Chávez löst an der Basis nach wie vor Ekstase aus. Kein anderer Politiker wird auf dem Subkontinent so verehrt oder gehasst. Monatelang war der redselige Rebell nur vereinzelt im Fernsehen zu sehen. Chávez hat Krebs und flog zur Behandlung nach Kuba, seine Haare fielen aus. Inzwischen sind sie nachgewachsen, er bezeichnet sich als geheilt. Sein Zustand ist so rätselhaft wie der Ausgang dieser Wahl. Aus der Nähe sieht man ein etwas aufgedunsenes Gesicht, ansonsten wirkt er fidel. Sicher ist: Chávez kämpft seinen schwersten Kampf.

Geklärt wird am 7. Oktober nicht nur die Frage, ob er bis 2019 bleiben und seine Ära auf 20 Jahre ausbauen darf, falls er durchhält. Es geht darum, ob sein bolivarischer Orkan noch stark genug bläst oder in einem Sturm der Empörung endet. "In ein paar Tagen werden wir der Bourgeoisie eine Lektion erteilen", verspricht Chávez den Reportern, das Publikum johlt. "Das ist eine Schlacht der Wahrheit gegen die Lüge, des Volkes gegen die Bourgeoisie, des Sozialismus gegen den Kapitalismus. Wir werden mit dem Sozialismus und dem erwachten Volk siegen." Der Offizier a. D. liebt militärische Sprache und Gesten. Doch seine Freunde werden weniger und seine Feinde mehr. Zu seinen Gegnern zählen seine Gesundheit und seine Bilanz. Und erstmals hat der Seriensieger aus dem Palacio Miraflores einen echten Rivalen.

"Hay un camino"

Sein Herausforderer läuft an einem warmen Morgen durch den Slum Petare im Osten von Caracas. Henrique Capriles Radonski ist 40 Jahre alt und drahtig, das orange Hemd klebt durchgeschwitzt am Körper. Sein Motto: "Hay un camino", es gibt einen Weg. In Petare sind die Wege eng und steil, Capriles spaziert und joggt zwischen Leibwächtern, Beratern und hupenden Anhängern. Aus einer Ecke fliegen Flaschen, es gab im Wahlkampf Tote.

Nach zwei Stunden erreicht die Karawane das Zentrum von Petare, Capriles steigt auf einen Pick-up: "Es gibt nichts Schlimmeres als ein messianisches und personalisiertes Projekt", brüllt er ins Mikrofon und bohrt den rechten Zeigefinger in die Luft. "Wir wollen kein politisches Projekt vertiefen wie die Regierung, wir wollen ein besseres Venezuela", ruft Capriles. "Wir haben Antworten auf die Probleme Venezuelas, wir haben Vorschläge für Gesundheit und Erziehung, für den Fortschritt und gegen die Gewalt. Diese Regierung hat nach 14 Jahren nichts mehr zu bieten."

Seine Gefolgschaft wächst mit der Enttäuschung über Chávez, obwohl der Kandidat neben dem Haudegen ein Leichtgewicht ist. Erst hatte die Opposition geputscht, gestreikt und boykottiert. Das stärkte Chávez und machte ihn radikaler, er gewann Wahlen und Referenden und änderte mit großer Mehrheit die Verfassung. Erst bei der Parlamentswahl 2010 rückte eine demokratische Union von rechts bis linker Mitte seiner sozialistischen Partei nahe. Jetzt probiert es der vereinte Widerstand mit dem juvenilen Bewerber Capriles, Gouverneur der Provinz Miranda.

Seit Monaten tourt der Jurist und Sohn einer wohlhabenden Unternehmerfamilie durch das Land, von der Karibik bis in die Anden und an den Orinoco. Hunderte Städte und Dörfer hat er besucht, wie Chávez in seinen besten Zeiten. Er gibt das jung-dynamische Kontrastprogramm zum kranken Amtsinhaber. Am Sonntag brachte Capriles eine Million Menschen auf die Avenida Bolívar von Caracas, einer Bastion des Chavismus. "Die Regierung hat die Straße verloren", verkündete er danach. In Petare imitiert der Katholik mit jüdischen Vorfahren sogar den religiösen Habitus von Chávez. "Ihr wisst, dass dieses Land von der Vorsehung und von Gott dazu auserkoren ist voranzukommen. Dieser Zyklus schließt sich, ein besserer beginnt."

Selbst hier findet Capriles Unterstützung, Petare ist ein Monument der venezolanischen Fehlentwicklung. Überfüllt, arm, gefährlich. Hunderttausende Menschen leben in unverputzten Häusern in den Hügeln, wenige Kilometer weiter residiert die Oberschicht in Villen.

Der Staat als Rundumversorger

Solche Zustände brachten Chávez zwar an die Macht, und er hat mehr dagegen getan als die alte Elite. Der Staat wurde zum Rundumversorger. Sogenannte Missionen stellen Ärzte und Lehrer. Es gibt subventionierte Lebensmittel. Eine Seilbahn verbindet die Hänge mit dem Tal. Das machte Chávez populär. "Chávez ist der Erste, der an die Armen denkt", sagt eine Frau. Die UN-Kommission Cepal bestätigt, dass Misere und Ungleichheit zurückgegangen sind. Der Patriarch hatte aber auch mehr Geld als jeder vor ihm, der Ölpreis stieg von 17 auf 120 Dollar. Das Ergebnis seines "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" ist karg, wenn man bedenkt, dass ihm Öl und Gas mindestens eine Billion Dollar in die Kasse gespült haben.

Kuba und Nicaragua bekommen Milliarden davon, derweil fällt in Venezuela mal der Strom aus, mal stürzt eine Brücke ein, mal explodiert eine Raffinerie des nationalen Ölkonzerns PdVSA. Chávez' Riege hat den Staatsapparat aufgebläht und die Abhängigkeit vom Öl noch erhöht. Es wuchs eine mäßig kompetente Vetternclique, korrupt wie ihre Vorgänger. Die Inflation stieg auf 30 Prozent, der Dollar ist am Schwarzmarkt dreimal so viel wert wie offiziell, 90 Prozent der Lebensmittel werden importiert. Und 2011 wurden in Venezuela 19.300 Morde gezählt, die Waffen sitzen locker. Dazu zerren die ständigen Grabenkämpfe an den Nerven, beide Lager beschuldigen sich des Betrugs und der Gewalt. "Wir sind müde, wir brauchen einen Wandel", sagt der Sozialarbeiter Alírio Ponce. "Chávez hat seine Gelegenheit nicht genützt." Trotzdem kann es sein, dass er wieder die meisten Stimmen bekommt.

Wie Brasiliens Lula

Der hellhäutige Widersacher Capriles will sein wie Brasiliens Lula und wird von den Privatmedien hofiert. Für seine Kritiker allerdings ist er ein Kind der Elite, die teuren Whiskey trinkt und mit billigem Sprit dicke Autos fährt. Zu seinen Financiers gehören Geschäftsleute, die unter Chávez leiden. In mehr als 1000 Firmen mischte sich die Regierung ein, manche wurden enteignet. Der Mestize Chávez dagegen vertritt die von ihm missachtete Unterschicht und schöpft aus dem Vollen. Petrodollar nähren seine Propaganda, ihm zu Diensten sind außer der Armee, Milizen und Richtern auch 2,5 Millionen Beamte sowie die Staatsmedien. Wenn Chávez das Fernsehen in Serie schalten lässt, dann zeigen alle Kanäle, wie er mit Schülern rechnet, eine Klinik einweiht oder vor dem gemalten Bolívar den Imperialismus verteufelt.

Kürzlich räumte Chávez überraschend ein, seine Verwaltung sei ineffizient. Bei einem Wahlsieg werde es besser. Lieber beleidigt er Capriles als Faschisten oder neoliberale Marionette. "Politischer Analphabet, ignorant." 15 Prozent Vorsprung verspricht Chávez, "Knock-out." Er doziert, schimpft, tanzt, singt, weint. Noch einmal wolle er ungestört durch diese Straßen ziehen, schluchzte Chávez im Tiefland. "Ich bitte dich Gott, gewähre mir diesen letzten Traum." Oder er predigt, dass es nicht um ihn gehe. "Das Volk ist Chávez."

In Catia steigen Chávez und seine Entourage auf einen roten Wagen. Die angekündigte Rede am Ende der Fahrt fällt aus, zurück bleiben seine Gläubigen. "Pa'lante, comandante", wünscht sich eine Funktionärin auf ihrem T-Shirt mit Chávez drauf. Vorwärts Kommandant.

© SZ vom 05.10.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: