Präsidentschaftswahl:Frankreich zwischen Terror und Richtungswahl

Nie war die Nervosität vor dem Ausgang der Präsidentschaftswahl so groß. Und dann kam auch noch der Terror zurück. "Das hilft Le Pen", glaubt so mancher Franzose.

Von Leila Al-Serori, Paris

"Das war es mit unserer Freiheit", schimpft die zierliche Frau mit dem graublonden Pagenkopf und dreht sich zu einem älteren Pärchen. "Liberté? Dass ich nicht lache. Überall nur Polizei." Der Mann antwortet ihr mit einem Stirnrunzeln: "Aber jetzt müssen wir doch für mehr Polizei sein, nachdem..." Er zeigt auf die weißen Blumen am Boden, die brennenden Kerzen.

Am Donnerstag ist an dieser Stelle ein Polizist von einem islamistischen Attentäter erschossen worden, mitten auf den Champs-Élysées, der Prachtstraße im Zentrum von Paris.

Die paar Dutzend Pariser, die jetzt noch hier stehen, trauern, aber vor allem diskutieren sie. 47 Millionen Franzosen wählen an diesem Sonntag im ersten Durchgang einen neuen Präsidenten. Und der Anschlag so kurz vor der Wahl könnte ihre Entscheidung auf den letzten Metern noch beeinflussen - zumindest Rentnerin Amandine, eine zierliche, aber lautstarke Frau, ist sich da sicher. "Das hilft Le Pen", sagt sie. Das Pärchen nickt zustimmend.

Marine Le Pen, Chefin des rechtsextremen Front National (FN) und ihr parteiloser Konkurrent, der wirtschaftsliberale Konkurrent Emmanuel Macron, führen die Umfragen an. Vor allem Le Pen scheint relativ sicher in die Stichwahl zu kommen, in Umfragen liegt sie bei mehr als 20 Prozent. Die FN-Chefin propagiert seit Jahren einen anti-islamischen Kurs, will die Polizisten aufstocken und die Grenzen schließen. Ein Attentat so kurz vor der Wahl könnte ihr helfen. Aber lässt sich das terrorerprobte Land davon maßgeblich beeinflussen? Bis zur Bekanntgabe der Ergebnisse am Abend kann man darüber nur spekulieren.

Das Rennen ist spannend wie nie, Demoskopen und Experten trauen sich kaum, einen Tipp abzugeben. Neben Macron und Le Pen kann sich auch der Konservative François Fillon ("Les Républicains") Hoffnung auf die Stichwahl am 7. Mai machen, genauso wie der linke EU-Gegner Jean-Luc Mélenchon ("La France Insoumise"). Jeder vierte Franzose war zuletzt noch unentschlossen, wem er seine Stimme geben möchte.

Macron, für viele ein Hoffnungsträger

Insgesamt elf Kandidaten stehen zur Wahl, aber nur die vier genannten Politiker haben Aussichten, François Hollande in den Élysée-Palast nachzufolgen. Der derzeitige Staatspräsident ist so unbeliebt, dass er sich nicht einmal mehr aufstellen lassen wollte. Nicht die einzige Überraschung in diesem Wahlkampf.

Für eine solche sorgte Anfang des Jahres François Fillon, der damals noch als großer Favorit galt. Mit einem Skandal um die Scheinbeschäftigung seiner Ehefrau spielte er sich selbst ins Abseits. Plötzlich wurde Emmanuel Macron zum Favoriten auserkoren. Er ist als früherer Wirtschaftsminister im Kabinett Hollande kein neues Gesicht für die französischen Wähler, tritt aber ohne etablierte Partei im Hintergrund an und ist ideologisch noch nicht festgelegt. Im europäischen Ausland hoffen viele, dass Macron Frankreich und Europa vor einer Präsidentin Le Pen bewahren kann. Am Donnerstag holte Macron sich telefonische Unterstützung vom früheren US-Präsidenten Barack Obama.

Weder Sozialist noch Konservativer - ein Novum in der Fünften Republik

Die jüngste Überraschung im französischen Wahlkampf ist nun der Altlinke Mélenchon, der als radikaler Exzentriker ohne Chancen gestartet war - und später den sozialistischen Kandidaten Benoît Hamon ins Abseits stellte. Mélenchon war bereits 2012 als Präsidentschaftskandidat angetreten, damals erreichte er etwa elf Prozent. Mit ihm und Le Pen sind zwei EU-Gegner mit protektionistischem Wirtschaftsprogramm im Rennen, ein Sieg von einem der beiden hätte Folgen für die ganze Europäische Union.

Nicht nur deshalb ist die Wahl eine absolute Richtungsentscheidung. Das traditionelle politische System in Frankreich wankt deutlich, der nächste Präsident wird sehr wahrscheinlich weder Sozialist noch Konservativer sein - ein absolutes Novum in der Fünften Republik. Drei der vier aussichtsreichsten Kandidaten gehören Parteien oder Bewegungen an, die noch nie einen Präsidenten gestellt haben.

Die großen Volksparteien sind schwach und zersplittert. Und die Schuldigen sind ausgemacht: Mit Sozialist François Hollande und dem Konservativen Nicolas Sarkozy waren zuletzt zwei so unbeliebte Präsidenten im Amt, dass sich viele Franzosen enttäuscht abwenden, gar nicht wählen gehen oder eben nach Alternativen suchen. Davon profitiert der Front National, aber auch der Aufstieg Emmanuel Macrons wäre sonst nicht vorstellbar, von dem Mélenchons ganz zu schweigen. Alle drei inszenieren sich als Kandidaten abseits des Systems.

Der Wahlkampf war dementsprechend intensiv und ungewöhnlich spannend, schon vor dem ersten Wahlgang. Und das, obwohl es kein großes Kampagnenthema und kaum inhaltliche Schwerpunkte gab.

Nach dem Angriff auf den Champs-Élysées am Donnerstagabend gibt es allerdings wieder ein Thema: die Sicherheit. Die Präsidentschaftskandidaten reagierten prompt und nutzten die letzten Stunden bis Freitagnacht, die sie laut Gesetz für den Wahlkampf nutzen dürfen. Mit ihr als Präsidentin, sagte etwa Marine Le Pen, hätte es die vergangenen Attentate nie gegeben: "Alle Täter wären entweder im Gefängnis gewesen - oder ausgewiesen." Fillon schlug vor, Tausende mutmaßliche Gefährder auch ohne Richterbeschluss in Lager zu sperren.

Rentnerin Amandine weiß, wen sie wählt

Frankreich ist seit November 2015 im Ausnahmezustand. Das Polizeiaufgebot ist groß, wie nicht nur in Paris an jedem größeren Platz oder Bahnhof zu sehen ist. Erst vergangene Woche wurden in Marseille zwei Männer wegen Anschlagsplänen festgenommen. Nach der Tat auf den Champs-Élysées stieg die Nervosität noch einmal.

Um die Wahl zu sichern, sind zusätzlich 50 000 Mann im Einsatz. In Nizza und Paris werden auch die Wahllokale von Sicherheitskräften geschützt.

Was macht das erhöhte Anschlagsrisiko mit den Bürgern? "Den Terror sind wir schon gewöhnt", sagt Amandine. "Ich fühle mich trotzdem sicher. Die vielen Polizisten brauche ich nicht dafür." Sie geht auf jeden Fall wählen. Aber nicht für Macron. Der sei "wie Hollande". Die Stimme der lautstarken Rentnerin bekommt Mélenchon.

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