Präsidentschaftswahl:Experiment Afghanistan

Afghanistan ist ein einmaliges Projekt: Unfrieden ist Normalzustand, jedes demokratische Experiment war bisher von Gewalt geprägt. Aber Frieden ist möglich - mit Hilfe des Westens.

Stefan Kornelius

Eine Wahl ist ein Schnappschuss im Leben einer Nation, und wie jeder Schnappschuss hält er nur den Augenblick fest. Wenn eine Nation aber nur ein- oder zweimal in ihrer Geschichte die Gelegenheit zu einer Porträtaufnahme bekommt, dann ist kein Platz für Zufall.

Wahl in Afghanistan, AFP

Verhüllte Frauen vor einem Wahllokal in Kandahar

(Foto: Foto: AFP)

Als die Fotografen noch Glasplatten belichteten, stützten sie den Nacken der Menschen, die ihnen als Motiv dienten, die Aufnahme sollte nicht verwackeln. Afghanistan ist so ein Land aus dem Zeitalter der Glasplattenfotografie.

Eine unerschütterliche Pose

An diesem Donnerstag wird ein Lichtbild genommen, und das ganze Land muss gestützt werden, damit eine ordentliche Aufnahme zustande kommt.

Stattlich soll das Bild wirken, es soll Eindruck machen bei Freund und noch mehr bei Feind. Die unerschütterliche Pose soll sagen: Afghanistan ist stark, es hat seinen Weg gefunden.

Das ist ein hoher Anspruch an einen Schnappschuss. Und es wäre ein außergewöhnliches Bild von Afghanistan. Denn das von der Geschichte gezeichnete Porträt gibt eine andere Auskunft. In der Sprache der Paschtunen handelt es sich bei Afghanistan um ein Niemandsland, einen Puffer.

Afghanistan ist kein historisch gewachsenes Gebilde, in dem Stämme und Ethnien ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickelt hätten. Afghanistan war immer Zwischenland - in der Phase der Staatenbildung bedrängt vom russischen Expansionismus und dem britischen Empire. Die Krone und der Zarenhof fochten ihre geopolitischen Phantasien aus.

Und selbst lange vor dieser Zeit kollidierten am Hindukusch die Hochkulturen: die chinesische, die persische, die indischen und die eurasischen strebten nach Dominanz. Einem Volk an der Nahtstelle der großen Menschheitskulturen ist kein Frieden beschert.

Ein Gewaltrausch nach dem anderen

Die Afghanen kennen den Unfrieden als Normalzustand. Selbst kurze demokratische Experimente, in der afghanischen Geschichte gar zum "Goldenen Zeitalter" stilisiert, waren gezeichnet von Orientierungslosigkeit und Gewalt.

Die konstitutionelle Monarchie: zu schwach für die widerstrebenden Kräfte im Staat. Der autoritäre Premier: zu kraftlos gegen die Macht der Stämme und Kriegsherren. Der afghanische Staat war immer Spielball innerer und äußerer Mächte. Aus eigener Kraft konnte er nie bestehen.

Die letzte und womöglich brutalste Heimsuchung widerfuhr dem Land von Weihnachten 1979 an, bis - ja womöglich - heute.

Die sowjetische Invasion, der Bürgerkrieg nach dem Abzug der Sowjets und schließlich die Unterdrückung durch die Taliban: Seit nunmehr 30 Jahren erlebt Afghanistan einen Gewaltrausch nach dem anderen.

Die Befreiung vom Fluch

Als die Taliban 2001 vertrieben wurden, war Afghanistan nur noch ein Gerippe von einem Staat. Es gab in nennenswerter Zahl weder Ärzte, Richter, Beamte, Schulen oder Verwaltungen.

Hamid Karsai Afghanistan Wahl AFP

Präsident Hamid Karsai nach der Abgabe seiner Stimme. Der Amtsinhaber zeigt seinen rechten Zeigefinger, den er in Tinte getaucht hat - eine Sicherheitsmaßnahme für alle Wähler, die verhindern soll, dass jemand mehrmals seine Stimme abgibt

(Foto: Foto: AFP)

Und heute? Acht Jahre und unzählige Fehler später? Was hat der Westen nicht alles falsch gemacht in seinem manchmal naiven Versuch, die Demokratie nach Afghanistan zu bringen. Heute, am Tag der Momentaufnahme, herrscht Ratlosigkeit, und der Blutzoll steigt und steigt.

Wofür also das Ganze? Und mit welchem Ziel? Gibt es eine Sehnsucht, gibt es einen Wunsch, der die Menschen in Afghanistan einen könnte?

Es gibt den Wunsch nach Frieden und Ruhe - mehr als alles andere. 41 Afghanen haben sich aufstellen lassen, weil sie dem Land als Präsident dienen wollen.

Eine große Zahl von Menschen wird an die Urnen gehen, und selbst wenn sie ihre Stimme im Auftrag des Stammesältesten oder eines starken Mannes abgeben: Sie versuchen das unselige Gesetz der Geschichte zu brechen, das bisher nur Elend und Krieg vorsah.

Alleine schafft es Afghanistan nicht

Alleine wird es Afghanistan nicht schaffen. Selbst wenn viele mit den Fremden im Land hadern - ohne diese Soldaten und Aufbauhelfer wäre der Bürgerkrieg längst wieder voll ausgebrochen, oder die Taliban hätten die Herrschaft erneut an sich gerissen.

42 Nationen haben sich verpflichtet, Afghanistan von seinem Fluch zu befreien. Sie wollen für Frieden und Ruhe sorgen - und dann das Land so schnell wie möglich verlassen. Möglicherweise wissen sie, dass sie einen aussichtslosen Kampf gegen die Gesetze der Geschichte führen, dass Afghanistan nie wird befriedet werden können.

Möglicherweise aber gibt es doch so etwas wie ein afghanisches Gemeinwesen, das nur Zeit zum Reifen braucht, starke Sicherheitskräfte und einen klugen Mann an der Spitze, der die richtige Dosierung findet aus Zentral- und Regionalmacht, aus Stammesgesetz und Staatsverfassung.

Den Ausgang des afghanischen Experiments kann niemand voraussagen - die Realpolitiker nicht, die dem Land noch eine Frist von wenigen Jahren geben und es dann seinem Schicksal überlassen wollen; die militärischen Ausdauerläufer nicht, die Fristen von bis zu 15 Jahren setzen; und auch die zivilen Helfer nicht, die in den ausländischen Soldaten das Übel sehen und zu vergessen scheinen, wie ihre Mitarbeiter von den Taliban hingemetzelt wurden, als es noch keine fremden Soldaten gab.

Afghanistan ist ein bislang einmaliges Projekt. An diesem Donnerstag wird sein Porträt genommen. Eigentlich ein guter Tag für das Land.

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