Präsidentschaftswahl:Der Nervöse - 24 Stunden mit Kandidat Wulff

Christian Wulff will am 30. Juni Bundespräsident werden. Vorher begibt sich der Ministerpräsident auf Sommerreise durch sein Niedersachsen - nicht ganz unfallfrei.

Thorsten Denkler

Alles Gute, nächste Woche. Aurich, Formengelände der Köster Abdichtungssysteme. Nicht die letzte Station auf der Sommerreise von Christian Wulff durch Niedersachsen. Aber die letzte Station dieser 24-Stunden-Reportage. Der Firmenbesuch gehört zu den Pflichtterminen des Ministerpräsidenten auf so einer Reise. Mittelstand stärken, Anerkennung zollen.

Sommerreise von MP Wulff durch Niedersachsen

Christian Wulff reist durch Niedersachsen - es ist wohl seine Abschiedsreise als Ministerpräsident des Landes.

(Foto: ag.ddp)

Köster Abdichtungssysteme - das ist so etwas wie ein Weltmarktführer. Ihre Produkte sorgen dafür, dass kein Wasser in Häuser, in Wohnungen, aus Badezimmern oder in Kraftwerke eindringen kann. Johann Köster, Seniorchef und Gründer steht mit einem Manuskript in seinen leicht zittrigen Händen im ersten Stock der Auricher Firmenzentrale. Wulff und die anderen Gäste sitzen an langen Tischen. Tee wird gereicht, ein Stück Kandiszucker liegt in jeder Tasse. Dazu Teegebäck.

Seniorchef Köster dankt dem Ministerpräsidenten fürs Kommen, wünscht alles Gute für die kommende Woche. Köster bekommt viel Applaus dafür. Wäre dies die Bundesversammlung, Wulff würde 100 Prozent der Stimmen bekommen. Es ist nur dieser eine Umstand, der den Besuch des Werkes nicht zu einem Routinetermin für Wulff macht, die Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten. Wie bei allen Terminen auf dieser Reise, die Präsidentschaftsfrage schwingt immer mit.

Es ist nach allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit seine Abschiedsreise als Ministerpräsident des Landes. Und doch ist da dieser Rest Ungewissheit, dieses Quäntchen zu viel Nervosität, das Wulff anhaftet. Vom Druck der Medien spricht er einerseits, die in den vergangenen Tagen und Wochen seinen Mitkandidaten Joachim Gauck bejubeln und ihn wie einen schnöden Merkel-Kandidaten dastehen lassen. Er wäre gerne mit einer Kandidatur ins Amt gegangen, bei der er auch die Menschen hätte mitnehmen können.

Vielleicht ist so eine Reise ein guter Ausgleich für die schlechte Presselage. Kaum einer, der ihn nicht freundlich begrüßt, der ihm nicht wohlgesonnen wäre, der ihm nicht Glück für die Wahl am kommenden Mittwoch wünschen würde. Das wahre Leben reicht ihm die Hand und lächelt. Das andere sind nur Zahlen und Wörter auf Papier.

Also passt auch dieser Besuch bei Köster Abdichtungssysteme gut. Ein wenig muss auch Wulff sich abdichten gegen die veröffentlichte Meinung. Ob er ein guter Präsident sein kann, wird sich ohnehin erst nach der Wahl entscheiden. Im Herbst, wenn es auf die Feierlichkeiten zu 20 Jahre deutsche Einheit zugeht, will er zeigen, wie er die Präsidentschaft auszufüllen gedenkt. Bis dahin will sich der Kandidat mit grundsätzlichen Reden zurückhalten.

Schlohweiße Beine in Badehosen: Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie Wulff zuvor im Strandbad von Schillig empfangen wurde.

Somme, Sonne, Strand in Schillig

Damals, in der Disko. Das Meer ist weg, aber das war absehbar. Für diese Tageszeit kurz nach Mittag lassen sich Ebbe und Flut sehr genau vorhersagen. Aber sonst ist dieser Termin auf der Niedersachsen-Rundreise von Ministerpräsident Christian Wulff so, wie es sich gehört. Sommer, Sonne, Strand und, naja, ein bisschen Meer an den Gestaden von Schillig.

Christian Wulff

Pressefoto mit Robbe: Christian Wulff am Strand von Schillig an der Nordseeküste mit dem Maskottchen des Ortes.

(Foto: ap)

Der aktuelle Bundespräsidentschaftskandidat wird mit einem warmen Applaus auf der Bühne empfangen. Es gibt etwas zu feiern, das Strandbad hat 150. Geburtstag. Menschen in Badehosen und Bikinis stehen vor der Bühne, manche noch schlohweiß vom langen Winter, andere so braungebrannt, als würden sie unter einer Höhensonne leben.

Festreden sind angesagt. Der Kandidat spricht über Tourismuswirtschaft und Übernachtungszahlen - über die Erfolgsgeschichte Nordseeurlaub. Die Honoratioren danken Wulff pflichtgemäß, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass er es trotz der Präsidentschaftskandidatur hat einrichten können, dass "Sie zu ihrem Wort gestanden haben". Dafür gibt es Extra-Applaus von den Badegästen.

Nach den Reden geht der Kandidat an den Strand. Hier stehen ein gutes Dutzend überlebensgroße weiße und blaue Plastikrobben. Irgendjemand muss wohl gedacht haben, mit Plastikrobben könne so ein Nordseesandstrand noch attraktiver werden. Ein paar Kinder spielen. Wulff gesellt sich dazu. Er weiß, welche Bilder Lokalzeitungen lieben. Die Menschen gehen auf ihn zu, wollen Autogramme, so wie Oma Agathe, die heute Geburtstag hat und das Autogramm braucht, damit ihre Enkel ihr auch glauben, dass sie Wulff am Strand getroffen hat.

Die Präsidentschaftskandidatur scheint hier weit weg zu sein in Schillig. In seiner Rede jedenfalls geht es nicht mit einer Silbe darum. Nur in den kurzen Radiointerviews, die er unentwegt geben muss. Die Fragen aber drehen sich nur um eines: Wird er Niedersachsen vermissen? Wird er Niedersachsen verbunden bleiben? Wird er als Bundespräsident öfter nach Niedersachsen kommen?

Die Frage, was ist, wenn er gegen Joachim Gauck verlieren sollte, stellen nur Wenige. Wulff antwortet dann ausweichend, dass es gut sei in der Demokratie, einen Gegenkandidaten zu haben. Dass sich in einer Demokratie die Minderheit der Mehrheit beugt.

Christian Wulff erkennt einen weißbärtigen Mann mit schwarzer Sonnenbrille wieder. Ein Diskothekenbesitzer aus einer der Nachbargemeinden, klärt der Kandidat die Umstehenden auf. Der Mann achte streng darauf, dass es in seiner Disko keine Drogen gibt. Wulff hätte es damit bewenden lassen können. Stattdessen pflegt er, mit Lederschuhen im Strandsand, sein Schwiegersohn-Image.

Der Kandidat also erzählt, er sei vor einigen Jahren mit seinen Leuten in jener Disko gewesen. Zufällig sei an dem Abend ein Pastorenehepaar hereingeschneit und wollte wissen, ob ihre Kinder dort gefahrlos hineingehen könnten. "Dann haben sie mich da sitzen sehen. Ich glaube, sie haben es ihren Kindern dann erlaubt."

Als Ministerpräsident muss er solche Geschichten wohl erzählen. Ministerpräsidenten sind ständig im Wahlkampf.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Herr der Lage auf stürmischer See, Wulff zu Gast im Schifffahrtsmuseum.

Wo ist der Landrat. Er lässt den Mann nicht aussprechen. "Vielen Dank", sagt Christian Wulff knapp. Und geht weiter. Dabei ist der Mann ein Parteifreund und stellvertretender Bürgermeister des Städtchens Elsfleth. Hier macht der ranghohe CDU-Politiker Station, um den Neubau des hiesigen Schifffahrtsmuseums zu besichtigen.

Wulff auf Sommerreise durch Niedersachsen

Wulff, der Kapitän, der Seebär, der die Lage auf stürmischer See immer im Griff hat. Schönes Bild, aber Wulff hat die Lage natürlich nicht im Griff.

(Foto: dpa)

Das gibt wieder schöne präsidiale Bilder des Kandidaten für die Wahl des Bundespräsidenten. Wulff mit Kind vor Vitrine; Wulff am historischen Steuerrad des ehemaligen Frachtenseglers Emma, Baujahr 1912. Wulff bei den Leuten.

Im Garten des Museums aber wartet eine kleine Demonstration: Gut zwei Dutzend Mitarbeiter des Modehauses Wessel, die sich mit Pappschildern bewaffnet dem Ministerpräsidenten entgegenstellen. Dem Ministerpräsidenten, nicht dem Kandidaten. Es geht um eine notwendige Erweiterung des 150 Jahre alten Familienbetriebes.

Seit drei Jahren versucht die Geschäftsführung, eine Baugenehmigung zu bekommen, sie scheitert aber regelmäßig am Landrat oder an der Landesregierung, je nach Sicht. Weil die Lieferanten nur bereit sind, dem Modehaus bessere Konditionen zu geben, wenn die Ladenfläche größer wird, hängt die Existenz des Hauses an der Entscheidung. 45 Arbeitsplätze sind gefährdet.

Der Kandidat geht lächelnd auf die Modeverkäufer zu. Die Geschäftsführer tragen ihr Problem vor. Christian Wulff stellt als Erstes fest, dass er nicht zuständig sei, sondern der Landrat. "Kommunale Selbstverwaltung", sagt Wulff - als wäre allein die Erwähnung dieser demokratischen Errungenschaft schon die Lösung. Wulff dreht sich nach dem Landrat um. Der ist verschwunden, er hat Wulff mit der Gruppe allein gelassen. Wulff verweist wieder auf Nichtzuständigkeit. Irgendwann platzt Günther Vögel der Kragen. Das ist er, der CDU-Mann, der als stellvertretender Bürgermeister von Elsfleth verantwortlich ist. "Seit drei Jahren geht das schon so", bricht es aus ihm heraus. "Es kann doch nicht sein, dass das links und rechts vom Tellerrand gefegt wird!"

Wulffs Gesichtszüge verhärten sich. Er sieht nicht aus, als hätte er noch große Lust, sich der Sache anzunehmen. Dann geht er einfach weiter, lässt das Modehaus und Herrn Vögel mit ihren Problemen allein zurück.

*

Die Sonne scheint hell. Im Zelt wartet der Kinderchor des evangelischen Kindergartens. "Die Sonne scheint hell, der Tag ist so schön, lalalalalala." So singen sie. Das gefällt dem Kandidaten besser. Drei Mitarbeiterinnen des Modehauses Wessel gehen auch in das Zelt. Haben sie den Eindruck, dass der Ministerpräsident ihnen helfen wird? Sie gucken, als wären sie ernsthaft gefragt worden, ob gleich der Russe einmarschiere in Elsfleth. Schweigen. Dann sagt eine der drei: "Wir hoffen es."

Im Zelt singen die Kinder vom grellen Sonnenschein.

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Höchste Eisenbahn

Geschichten im Bus. Christian Wulff hat an diesem Donnerstagmorgen noch nicht recht Lust, mit der Presse zu reden. Sie ist anstrengend, diese Busreise quer durch Niedersachsen. Noch sechs Tage bis zur Wahl des Bundespräsidenten. Wer die ersten beiden Reisetage seit Dienstag mitgemacht hat, berichtet von einem angespannten, nervösen Ministerpräsidenten. Sie erzählen dann, wie Wulff auf eine Geschichte in der Berliner Zeitung reagiert hat, die auf ihrer Titelseite noch mal zusammengefasst hat, wieso und weshalb Wulff erst nach seiner sehr wahrscheinlichen Wahl zum Bundespräsidenten das Amt des Ministerpräsidenten niederlegen will. Und wie die Opposition das nutzt, um ihm eine gewisse Feigheit vorzuwerfen.

Wulff gilt als eher ausgeglichener Charakter. Cholerische Anfälle liegen ihm nicht. Für seine Verhältnisse muss er nach Lektüre der Berliner Zeitung geradezu neben sich gestanden haben. Vor allem in dem Moment, als eine Journalistin ihm im Bus auch noch nach einer Stellungnahme zu der Geschichte fragte. Die Debatte ist ihm unangenehm. Mit solchen Geschichten werde das Amt des Bundespräsidenten beschädigt, heißt es aus Wulffs Umfeld. Schwierig zu sagen, ob das stimmt. Nach der lafontainesken Flucht von Horst Köhler aus Schloss Bellevue müsste der Begriff Amtsbeschädigung erst mal neu definiert werden. Klar ist aber auch, dass der Akt zwar juristisch wasserdicht sein mag - aber letztlich niemand Wulff darin hindern würde, sein Ministerpräsidentenamt noch vor der Wahl niederzulegen.

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Höchste Eisenbahn. Aussteigen am Bahnhof von Stade. Es geht weiter mit dem Moorexpress nach Barchel. Fahrzeit: 45 Minuten. Der Triebwagen T164 wurde 1955 auf die Schiene gesetzt. Zwei Klöckner-Humboldt-Deutz-Dieselmotoren mit je 145 PS treiben das Gefährt ratternd und sprotzend mit 80 Kilometern pro Stunde durch das Teufelsmoor. Dem Moor ist das Teuflische an diesem blaubehimmelten Sommertag beim besten Willen nicht anzusehen. Aber der Schein kann trügen. Im Zug ist es so laut, dass mancher ein Lob gen Himmel schickt für die Fortschritte auf dem Gebiet der Eisenbahntechnik seit 1955. Alle paar Sekunden lässt der Lokführer das Signalhorn dröhnen, dass einem die Klänge der Vuvuzela dagegen wie ein Haydn-Konzert vorkommen.

Ministerpräsident Wulff schaut beim Lokführer vorbei, der ihm ausdauernd die Tücken der musealen Technik erklärt. Dann ergreift der Geschäftsführer des Eisenbahnunternehmens EVB, ein Mann namens Ulrich Koch, das Mikrofon und lässt einen Gruß durch die altersschwachen Lautsprecher scheppern. Koch freut sich selbstredend, den Ministerpräsidenten an Bord zu haben, am Morgen nach diesem "na, grandiosem Spiel der deutschen Nationalmannschaft kann man ja nicht sagen". Dann hat der Redner eine Weisheit parat, die klingt, als wolle er Wulff schon mal vorab trösten, falls die Wahl am kommenden Mittwoch nicht ganz rund läuft. "Nach einem Sieg", sagt der Eisenbahner, "fragt keiner mehr wie es gelaufen ist."

In Bezug auf Wulff, den Noch-Nicht-Bundespräsidenten, könnte er da recht behalten. In Bezug auf die schwarz-gelbe Bundesregierung wohl eher nicht.

*

Buxtehude, auf hoher See

Buxtehude, auf hoher See. Der Chef will sehen, ob der Kandidat seetüchtig ist. Der Chef, das ist Helmuth Ponath, ein weißhaariger Mann, dem die Reederei NSB in Buxtehude gehört, südwestlich von Hamburg. Ein alter Sozialdemokrat, der an diesem sommerlichen Mittwochabend den Mann in seinem Unternehmen empfängt, der nächste Woche deutscher Bundespräsident werden will.

Ist Christian Wulff also seetüchtig? Ponath schickt den Noch-Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen auf die Brücke des hauseigenen Schiffssimulators. Die NSB kann sich so einen Simulator leisten. Sie gehört zu den größten Containerschiffreedereien im Land.

Das könnten schöne Bilder werden. Wulff, der Kapitän, der Seebär, der die Lage auf stürmischer See immer im Griff hat.

Er hat sie natürlich nicht im Griff.

Ponath hat ein paar Schikanen in die Simulation einbauen lassen. Dutzende Schiffe schippern da auf der Nordsee. Hoher Wellengang. Christdemokrat Wulff steuert sein Schiff von einer Beinahe-Havarie zur nächsten.

Es wird warm auf der Brücke. Der Kandidat schwitzt. "Was mir nicht gefällt, ist, dass das Steuer und mein Kompass nicht richtig zusammenpassen", sagt er. Ein schöner Satz. So was sollte er mal auf einem CDU-Parteitag sagen.

Weiter hinten taucht die Gorch Fock auf, das berühmte Segelschulschiff. Jetzt alles, nur nicht dieses Symbol der Deutschen Marine versenken. "Das liest sich nicht so gut in der Zeitung", bemerkt Wulff. Und lächelt gequält. Nein, das liest sich nicht gut. Nicht so kurz vor der Wahl zum Bundespräsidenten. Nicht mal, wenn es nur eine Simulation ist.

Die Kandidatur des Christian Wulff läuft ohnehin nicht richtig rund. Seinem Gegenpart Joachim Gauck fliegen die Herzen zu, er redet die Leute schwindelig und lässt Tränen laufen. Wulffs Präsentation dagegen läuft nach Aktenlage. Er muss sich dauernd rechtfertigen, weil er offensichtlich nicht der Kandidat des Volkes, sondern nur der Kandidat von Angela Merkel ist. Das Volk hat da offenbar mehr erwartet.

Zwei Simulationen übersteht Wulff unfallfrei. In der dritten soll er ein mit 8000 Containern beladenes Riesenschiff in den Hamburger Hafen fahren. Wulff scheint zu ahnen, dass das ganz böse enden kann. Ein Schiff kommt ihm entgegen, er muss den Kahn ein wenig nach steuerbord lenken, was bei so einem Monsterkutter "hart steuerbord" bedeutet, damit das Schiff bei geringer Fahrt "genug Impuls" bekommt, wie der Bordtechniker erklärt.

Wulff, der Sanftmütige, gibt zu viel Impuls. Das Schiff steuert auf eine Insel im Hafenbecken zu. Es wird auf Grund laufen. "Das ist ja schlimm", entfährt es dem Kandidaten. Bevor es zum Äußersten kommt, verlässt Wulff die Brücke. Solche Bilder will er den Fotografen nicht ermöglichen. Der Ministerpräsident und Beinahe-Bundespräsident am Steuer eines außer Kontrolle geratenen Containerschiffs - das sieht nicht gut aus in der Zeitung.

*

Hier gibt's Bier. Wenig später Public Viewing mit dem Kandidaten. Na ja, nicht wirklich public: Vor dem Eingang zum Campus der privat organisierten "Hochschule 21" in Buxtehude steht ein großes Schild: "Geschlossene Gesellschaft". Wer auf das Gelände will, muss sich namentlich angemeldet haben.

Als Christian Wulff kommt, lässt er sich erst mal von einer Journalistin mit einem Dreifarbenstift die Deutschlandfarben auf eine Wange malen. Dass er dabei umringt von Kameraleuten und Fotografen ist, lässt sich kaum vermeiden. Der Kandidat ist auf dieser Reise fast permanent umlagert.

Die zweite Wange will er sich nicht bemalen lassen, eine reicht. Sein Lächeln aber, das er mit der abwehrenden Handbewegung verbindet, gerät zum Versuch. Er wirkt auffallend angespannt in dieser Situation. Muss er seine neue Rolle erst noch finden?

Was ist er hier? Ministerpräsident? Präsidentschaftskandidat? Die erste Rolle kennt er seit Jahren. Die zweite erst seit genau drei Wochen. Hat ein Präsidentschaftskandidat Deutschlandfarben auf der Wange? Darf er ausgelassen jubeln, wenn die Nationalmannschaft spielt? Wer will das sagen?

Tor für Deutschland in der 60. Minute. Christian Wulff reißt wie einige Hundert Deutschland-Fans hinter und neben ihm die Arme hoch, klatscht. Das Tor kam so überraschend, dass manche Fotografen sich in der Aula der Hochschule nicht rechtzeitig vor dem Kandidaten in Positur bringen konnten. Es ist Wulffs erste Gefühlregung in diesem Spiel.

Nach dem Özil-Tor schleppt der örtliche Landtagsabgeordnete einen Kasten Bier heran. Wulff verteilt die Flaschen. Die Menge dankt. "CHRISTIAN!", brüllt sie wie auf Kommando. Als hätte irgendwer sämtliche Mitglieder der Jungen Union für diesen Abend hierherverfrachtet.

Nach dem Match reißen wieder alle die Arme hoch. Auch Wulff. Er lässt die Hände in der Luft schlacken, als wisse er, dass das jetzt dazugehört.

Ein paar Minuten später geht Wulff. Ein Mann, Anfang 20, stellt sich ihm in den Weg, legt ihm seinen Arm über die Schulter und fragt, ob er sich fotografieren lassen kann. Wulff lässt es geschehen. Der Mann schlingt seinen Arm noch etwas fester um den Hals des Kandidaten, so wie echte Kumpels das tun würden.

Wie hätte Joachim Gauck das hier gemacht? Er hätte sich wohl nicht verweigert. Aber wahrscheinlich wäre er gar nicht angesprochen worden. Und Horst Köhler, der schon fast in Vergessenheit geratene Ex-Bundespräsident? Nein, unmöglich, das hätte es mit ihm nie gegeben.

Wenn nicht der Himmel einstürzt, wird Wulff gewählt werden am kommenden Mittwoch. Wenn er schon kein Präsident wird, der so gut reden kann wie Gauck, so könnte er doch ein Präsident werden, der den Leuten ein Gefühl von Nähe gibt.

Christian Wulff ist der Mann, der Bier verteilt.

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