Präsidentschaftswahl:Brasilien steht vor einer skurrilen Wahl

FILE PHOTO: Thousands of Brazil's former President Lula da Silva's supporters walk during the Free Lula March in Brasilia

Viele Lula-Anhänger glauben, dass das Verfahren gegen den Ex-Präsidenten politisch motiviert war. In Brasilia fordern sie dessen Freilassung.

(Foto: Adriano Machado/Reuters)
  • Anfang Oktober wird in Brasilien gewählt. Fast die Hälfte der Bevölkerung würde ihre Stimme dem inhaftierten Ex-Präsidenten Lula da Silva geben.
  • Ob Lula, in einem umstrittenen Korruptionsverfahren zu 12 Jahren Haft verurteilt, zur Wahl antreten darf, muss bis Mitte September das oberste Wahlgericht entscheiden.
  • In den Umfragen liegt hinter ihm der Diktatur-Freund Bolsonaro. Er dürfte die Stichwahl erreichen, dann aber gegen jeden möglichen Kandidaten verlieren.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Die meisten Brasilianer müssen sich erst noch daran gewöhnen, dass es jetzt offenbar ein "Alckmin Momentum" gibt. Das Nachrichtenmagazin Istoé hat das unlängst auf seiner Titelseite verkündet. Demnach liegt der 65-jährige Geraldo Alckmin gut im Rennen für die Präsidentschaftswahl im Oktober. Auf den ersten Blick ist das eine mutige Prognose: In Umfragen pendelt er seit Monaten zwischen fünf und sieben Prozent. Auf den zweiten Blick muss das aber noch gar nichts heißen. Brasilien steht vor einer Wahl, die so unvorhersehbar ist wie nie. Und eine Reihe von Kandidaten mit derzeit einstelligen Popularitätswerten können sich durchaus noch Hoffnungen machen, demnächst das höchste Staatsamt zu übernehmen. Einen Mann wie Alckmin zu unterschätzen, wäre sicherlich fahrlässig.

Geraldo Alckmin ist ein Schwergewicht der brasilianischen Politik. Er war Mitbegründer der liberal-konservativen Volkspartei PSDB und regierte als Gouverneur den mit Abstand wirtschaftsstärksten Bundesstaat São Paulo. Alckmin ist der Liebling der Börsen und Großunternehmer. 2006 wollte er schon einmal Staatspräsident werden, damals unterlag er in der Stichwahl gegen einen gewissen Luiz Ignacio Lula da Silva.

Es heißt, zwölf Jahre später sei Brasilien ein anderes Land. Eine schwere Wirtschaftskrise und ein beispielloser Korruptionsskandal, der nahezu alle Parteien betrifft, hätten die größte Demokratie Südamerikas in ihren Grundfesten erschüttert. Mag sein. Aber mit Blick auf die Kandidatenrunde für die Wahl ist davon nichts zu erkennen. Da treffen sich lauter alte Bekannte. Neben Alckmin und Lula, dem seit April verhafteten Anführer der linken Arbeiterpartei PT, sind das: Ciro Gomes und Marina Silva, die beide zum dritten Mal antreten. Dazu der rechtsextreme Jair Bolsonaro, der seit 25 Jahren im Kongress sitzt sowie Lulas Ersatzmann Fernando Haddad, der wie Silva und Gomes schon als Minister unter dem Ex-Präsidenten wirkte.

Brasilien ist ein fernsehverrücktes Land. Ab Freitag laufen die ersten Spots - für die Wahl im Oktober

Die größte Erschütterung besteht zweifellos darin, dass Lula, 72, seinen Wahlkampf aus dem Gefängnis führt. In einem höchst umstrittenen Korruptionsverfahren wurde er zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Etwa die Hälfte der Brasilianer glaubt, dass es sich um einen politischen Prozess handelte, um den beliebtesten Politiker des Landes aus dem Rennen zu schießen. Für diese Annahme gibt es gute Gründe, aber auch einige Gegenargumente. Zur Wahl am 7. Oktober wird Lula mit großer Wahrscheinlichkeit nicht antreten dürfen. Das Oberste Wahlgericht muss darüber spätestens Mitte September entscheiden.

Lula aber konnte von seiner Zelle aus seinen Vorsprung in den Umfragen noch ausbauen. 39 Prozent der Wahlberechtigten, also rund 57 Millionen Brasilianer, würden ihm laut einer aktuellen Erhebung ihre Stimme geben. Eine der spannendsten Fragen ist nun, was mit diesem Kontingent passiert, wenn er von der Justiz endgültig gesperrt wird. Lulas Strategie besteht offenbar darin, so lange wie möglich an seiner Kandidatur festzuhalten und seine Stimmen erst im letzten Moment auf seinen Parteifreund Haddad zu übertragen. Ob das aufgeht, ist fraglich. Haddad, 55, war ein recht erfolgreicher Bürgermeister von São Paulo, aber in großen Teilen des Landes ist er unbekannt. Fast die Hälfte der Lula-Sympathisanten sagen, sie hätten diesen Namen noch nie gehört. Die Justiz wird in den kommenden Tagen auch zu klären haben, ob der Häftling Lula in den Wahlspots der PT für Haddad werben darf. Das könnte wahlentscheidend sein.

Brasilien ist ein fernsehverrücktes Land, von Freitag an dürfen Wahlwerbespots geschaltet werden. Auf diesen Moment wartet Alckmin sehnsüchtig. Er gilt als ein Mann ohne Charisma. Die Zeitung O Globo hat ihm den Spitznamen "Picolé de Chuchu" verpasst - in Anlehnung an eine geschmacksfreie Gemüsesorte. Aber Alckmin hat einen Coup nach alter brasilianischer Art gelandet, der ihn in den Umfragen bald nach oben spülen könnte: Er sicherte sich ein Fernsehwerbemonopol.

Öffentliches Wahlkampfgeld und TV-Werbezeiten werden nach Fraktionsgröße verteilt. Im Kongress sitzen 25 Parteien und die meisten von ihnen tauschen ihre wertvollen Fernsehsekunden gegen politische Posten ein. Alckmin hat mit seinen Teppichhändlerkünsten gleich neun dieser Splitterparteien aus dem Zentrumsblock "Centrão" hinter sich gebracht. Dieser Block ist wegen seiner konservativen und ultrareligiösen Ansichten auch als "niederer Klerus" bekannt. 12:30 Minuten werden die täglichen Werbesequenzen bei den großen Sendern dauern. 5:32 Minuten davon läuft Alckmin in Dauerschleife.

Wenn Lula nicht antreten darf, was dann?

Der in den Umfragen derzeit zweitplatzierte Rechtsextremist Bolsonaro muss dagegen mit acht Sekunden auskommen. Vielleicht reicht ihm das sogar, über sein Wahlprogramm kann er ohnehin nicht reden, er hat keines. Aber selbst wenn er weiterhin nur provozieren will, muss er sich für die entscheidende Wahlkampfphase sehr kurze Provokationen ausdenken. Bolsonaro wird allen bisherigen Prognosen zufolge die Stichwahl erreichen, diese aber wohl gegen jeden Gegner verlieren; die Demokraten aller Lager werden sich gegen den Rassisten und Diktatur-Fan verbünden. Geraldo Alckmin sagte dieser Tage: "Alle träumen davon, gegen Bolsonaro in der Stichwahl zu stehen." Alle heißt in diesem Fall: die Teilnehmer des Schneckenrennens hinter dem wahrscheinlich verhinderten Lula und dem untragbaren Bolsonaro. Also Alckmin, Haddad, Marina Silva und Ciro Gomes. Sie alle überzeugen zwischen vier und sechs Prozent der Wähler.

Die einstige Umweltministerin Marina Silva, 60, fällt schon deshalb aus der Reihe der Kandidaten, weil sie eine dunkelhäutige Frau ist. Vor allem aber hat sie im Gegensatz zu ihren weißen, männlichen Konkurrenten ein klares Konzept zum Schutz des Regenwaldes und der indigenen Bevölkerung. Sie vertritt eine evangelikal angehauchte Ökologiebewegung, die Bewahrung der Schöpfung im Geiste der Bibel. Allerdings hat ihre Kampagne so wenig Geld, dass sie nach Medienberichten morgens um vier Uhr aufstehen muss, um die billigsten Flüge zu ihren Terminen zu nehmen. Auf Reisen schläft sie demnach bei Unterstützern auf der Couch.

Ciro Gomes, 60, versucht, sich innerhalb der gespaltenen Linken als Alternative zu Lula zu positionieren. Doch Gomes hat ein Glaubwürdigkeitsproblem, und vor allem bei vielen Frauen gilt er als unwählbarer Macho. Als er im Wahlkampf 2002 aussichtsreich im Rennen lag, wurde er gefragt, worin die Rolle seiner damaligen Gattin als First Lady bestehen könnte. Gomes sagte: "Mit mir zu schlafen." Der Satz hängt ihm bis heute nach.

Alckmin müsste wegen seines Fernsehvorteils eigentlich die besten Siegchancen haben. Aber auch er kämpft mit einem großen Problem: Der aktuelle Präsident Michel Temer, dessen Partei einen aussichtslosen Kandidaten ins Rennen schickte, hat gerade laut darüber nachgedacht, Alckmin zu unterstützen. Temer aber ist der unbeliebteste Staatschef in der Geschichte Brasiliens. Falls Alckmin auch nur ansatzweise in den Ruf gerät, er sei der Regierungskandidat, dann ist er erledigt.

Zu diesem so bizarren wie unkalkulierbaren Szenario gehört auch: Fast 40 Prozent der Brasilianer würden nach Lage der Dinge keinen dieser Bewerber wählen.

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