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Schulstart im Ausland:Trotz Delta zurück ins Klassenzimmer

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Am Beginn des neuen Schuljahres verkünden Politiker allerorten eine Priorität für den Präsenzunterricht. Mit den Risiken geht man unterschiedlich um, wie der Blick in andere Länder zeigt.

Von SZ-Korrespondenten, Madrid, Tel Aviv, Paris, Kopenhagen

Die große Unbekannte in den Schulen heißt Delta. Die Coronavirus-Variante, die inzwischen überall das Infektionsgeschehen bestimmt, gilt als ansteckender und stellt nun gerade diejenigen vor Herausforderungen, die darüber entscheiden, wie und unter welchen Bedingungen das neue Schuljahr starten soll. Dabei ist man sich nicht nur in der deutschen Kultusministerkonferenz, sondern auch in anderen Staaten darüber einig: Sofern es irgendwie geht, soll Unterricht wieder im Klassenzimmer stattfinden und nicht zu Hause am Bildschirm. Doch mit den Risiken, die aus dieser Entscheidung erwachsen, geht man unterschiedlich um, das zeigt der Blick nach Spanien, Israel, Frankreich und Dänemark.

Die Ausgangsbedingungen unterscheiden sich: In Spanien hatte man sich schon im vergangenen Schuljahr dafür entschieden, dem Präsenzunterricht Priorität zu geben. Kaum ein Land hatte die Schulen so konsequent offen gehalten. Selbst Frankreich, das den Spaniern lange als Vorbild galt, schloss im April die Schulen. Die Zeitung El País fragte damals: "Wie schafft es Spanien, die Schulen offen zu halten, während alle anderen Länder ringsum sie schließen?" Die Antwort: Die Politik blieb bei ihrer Entscheidung, auch als die Inzidenzen stiegen.

Auch deshalb geht Spanien nun mit einem gewissen Vorsprung an Erfahrung ins neue Schuljahr. Die Maßnahmen aus dem vergangenen Jahr werden laut Bildungsministerin Pilar Alegría im Wesentlichen fortgesetzt. Einzelne Details sollen sogar gelockert werden, etwa der Mindestabstand von 1,50 Meter auf 1,20 Meter verkürzt, was es erlaubt, wieder 25 statt bisher 20 Schüler in einem Klassenzimmer zu unterrichten. Beibehalten wird die Maskenpflicht für Kinder ab sechs Jahren sowie das Gebot, die Fenster im Klassenzimmer offen zu halten. Im vergangenen Winter hatte diese Regel dazu geführt, dass Eltern ihre Kinder mit mehreren Pullovern übereinander und Wolldecken in die Schule schickten.

In Spanien handelt man pragmatisch

Pragmatismus ist vermutlich die treffendste Beschreibung für das Gefühl, mit dem Spanien seine Entscheidung für Präsenzunterricht umsetzt. Diskussionen wie in Deutschland über eine "Durchseuchung" der Schüler gibt es kaum. Das vergangene Schuljahr wurde in Katalonien auch genutzt, um zu erforschen, ob Schulen zu den Pandemietreibern gehören. Die Antwort, die Systembiologen der Universidad Politècnica de Cataluña in ihrer Studie gaben: zumindest unter den geltenden Regeln wie Maskenpflicht eher nicht. Demnach steckte im vergangenen Schuljahr jeder infizierte Schüler zwischen 0,3 und 0,6 Personen an. Allerdings haben diese Daten eine Krux: Damals kursierte noch nicht die Delta-Variante, die sich erst gegen Ende des Schuljahres in Spanien durchgesetzt hat. Vor allem im Juli, als die Abiturienten ihre Abschlussfahrten machten, explodierten in Spanien die Fallzahlen unter Jugendlichen.

Der Epidemiologe Salvador Peiró geht deshalb davon aus, dass sich Kinder und Jugendliche eher in den Ferien anstecken und die Maßnahmen in den Schulen sogar eine bremsende Wirkung auf das Infektionsgeschehen haben könnten. Spaniens Kinderärzte empfehlen, dass geimpfte Schüler künftig nicht in Quarantäne müssen, wenn sie Kontakt mit einem Infizierten hatten. Das soll ein Anreiz fürs Impfen sein, wobei in Spanien kaum jemand zum Impfen überredet werden muss. Beim Lehrpersonal liegen die Impfquoten zwischen 92 und 95 Prozent. Und in der Altersgruppe der 12- bis 19-Jährigen haben bereits 72 Prozent eine erste Dosis erhalten, 32 Prozent sind vollständig geimpft. Rechtzeitig vor Schuljahresbeginn sanken nun auch die Infektionszahlen, die fünfte Welle scheint in Spanien überstanden zu sein.

Etwas schlechtere Startbedingungen ins neue Schuljahr hat dagegen Israel: Hier beginnt die Schule mitten im neuen Covid-Chaos mit Rekordzahlen bei den Infektionen. Und trotzdem gibt die Politik dem Präsenzunterricht Priorität. Die Schule beginnt in Israel stets am 1. September, in diesem Jahr wurde der Tag zum Symbol eines neuen Anfangs stilisiert. Staatspräsident, Premier und das halbe Kabinett schwärmten aus in die Lehranstalten. "Dieser Schulbeginn ist die klare Botschaft, dass wir mit dem Coronavirus leben müssen", verkündete der für die Pandemiebekämpfung zuständige Regierungsberater Salman Zarka.

Selbst Sechs- bis Elfjährige sollen bald geimpft werden

Mit einem ganzen Bündel an Maßnahmen soll in Israel dieses Jahr verhindert werden, dass die 2,5 Millionen Schüler wie fast im gesamten Vorjahr per Zoom unterrichtet werden müssen. Zum Schulbeginn wurden den Familien nicht nur Bücherlisten, sondern auch Schnelltests geschickt. Nur mit negativem Ergebnis gab es Zutritt zum Klassenzimmer. Vorab waren bereits 343 000 Kinder zwischen drei und elf Jahren, die noch nicht geimpft werden können, einem serologischen Test unterzogen worden, knapp zehn Prozent hatten Antikörper. Sie müssen nun nicht mehr in Quarantäne, wenn Klassenkameraden erkranken. Israels Regierung setzt bei den Schülern weiter auf Impfungen. Künftig soll es diese auch in Klassenzimmern geben. Mindestens einmal geimpft sind derzeit 50 Prozent der Zwölf-bis 15-Jährigen und 80 Prozent der 16- bis 18-Jährigen. Regierungschef Naftali Bennett äußerte zum Schulstart die Hoffnung, dass schon in zwei Monaten mit Impfungen in der Altersgruppe der Sechs- bis Elfjährigen begonnen werden könnte.

In Frankreich endeten am Donnerstag für mehr als zwölf Millionen Schüler die Sommerferien. Für die rentrée, ein liebgewonnenes Ritual für das gesamte Land, hat Bildungsminister Jean-Michel Blanquer das Motto "so normal wie möglich" ausgerufen. Sprich: so viel Präsenzunterricht wie möglich. Seit dem zweiten und dritten Lockdown (Herbst 2020 und Frühjahr 2021) wissen die Franzosen, dass dies nicht nur ein Versprechen ist. Die Schulen blieben in Frankreich lange offen, während Deutschland sich wieder wochenlang im Homeschooling versuchte. Erst im März verkündete Präsident Emmanuel Macron, dass die Frühjahrsferien um eine Woche verlängert werden.

Macron und sein Bildungsminister setzten nicht auf Luftfilter und Massentests, sondern auf Optimismus. Vor Ansteckungen geschützt waren Frankreichs Schüler nicht. Doch die Politik bewertete die sozialen und psychischen Folgen der Schulschließungen für schwerwiegender als die Möglichkeit einer Covid-19-Erkrankung. An dieser Grundeinschätzung hat sich am Beginn dieses Schuljahres nichts verändert. Hinzu kommt die vergleichsweise hohe Impfquote unter Frankreichs Jugendlichen.

Mehr als 64 Prozent der Zwölf- bis Achtzehnjährigen haben mindestens eine Impfdosis erhalten, knapp 50 Prozent haben einen vollständigen Impfschutz. Noch während der Sommerferien hatte der Bildungsminister mitgeteilt, dass geimpfte Schüler nicht in Quarantäne müssen, selbst wenn ihr Banknachbar sich mit Covid-19 infiziert hat. Von sechs Jahren an gilt eine Maskenpflicht, Klassen sollen nicht durchmischt werden. Tritt ein Covid-Fall auf, sollen Grundschulklassen für eine Woche in Quarantäne. Lehrergewerkschaften beklagen, die Schutzvorkehrungen seien angesichts der Inzidenz in Frankreich zu lax, landesweit liegt der Wert aktuell bei knapp 170 Infizierten pro 100 000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen.

Dänemark geht im Vergleich zu vielen anderen Ländern einen Sonderweg. Wenige Wochen nach Schuljahresbeginn will das Land am 10. September alle Corona-Beschränkungen abschaffen. Für diesen Plan der Regierung sind die Schulen einer der großen Risikofaktoren. Man stützt sich auf die Rekord-Impfquote der Dänen, 72 Prozent der Bevölkerung sind bereits vollständig geimpft, das ist ein Prozentpunkt mehr als in Spanien und europaweit der Spitzenwert. Allerdings sind die Schüler Ausreißer: Bei den Zwölf- bis 15-Jährigen haben in Dänemark zwar fast 60 Prozent die erste Impfung erhalten, doch jüngere Kinder sind ohne Impfschutz.

Schon jetzt gab es in Dänemark regelmäßig Ausbrüche an Schulen, für den Herbst erwarten Epidemiologen einen rasanten Anstieg der Infektionen unter Kindern. Geschlossen werden sollen Schulen aber nur noch ab einer Anzahl von 30 oder 40 Infizierten. Die dänische Politik setzt darauf, dass Kinder seltener erkranken und die Krankheit dann meist milde verläuft. Bleibt die Frage, wie sehr die Delta- und mögliche neue Varianten des Virus den Kindern im Winter zusetzen werden. Und ob die Schulen dann nicht die ersten Orte in Dänemark sein werden, an denen die Beschränkungen wieder eingeführt werden.

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