Süddeutsche Zeitung

Porträt:Der Mann, der viel mehr konnte

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SZ-Redakteurin Evelyn Roll hat den Alt-Bundespräsidenten vor zwei Wochen noch einmal getroffen. Hier ist ihre Reportage.

Wie es ihm geht? Johannes Rau macht eine langsame, resignierte Wellenbewegung mit der linken Hand. Auf und ab. Er muss sich schonen. Alles kostet ihn ungeheuer viel Kraft. Öffentliche Auftritte gibt es deswegen nur noch selten. Er hat sich von den unglücklichen Folgen der schweren Herzoperation im August 2004 nie wieder richtig erholt. Erfreulicherweise lässt er die Wellenbewegung seiner linken Hand aber wenigstens in einer Aufwärtskurve enden.

Johannes Rau erzählt, wie schade er es finde, was er alles absagen müsse, und auch, dass er die wenigen Zusagen - zuletzt ist er zur Einweihung der Dresdner Frauenkirche gekommen - immer mit der Bedingung verknüpfen müsse: Wenn es mir an dem Tag gut genug geht. So wird es auch am Montag sein, an seinem 75. Geburtstag.

Sein Amtsnachfolger Horst Köhler hat zu Ehren von Johannes Rau für 11 Uhr zu einem Empfang ins frisch renovierte Schloss Bellevue eingeladen. Nachmittags werden dann - wie immer am 16. Januar - die engeren Freunde und Weggefährten bei den Raus zu Hause erwartet. Wenn es die Tagesform zulässt.

Versöhnen statt spalten

Johannes und Christina Rau wohnen jetzt schon einige Zeit in ihrem neuen Zuhause in Zehlendorf, mit Laura, der jüngsten Tochter, und mit dem Hund Scooter natürlich. Anna und Immanuel studieren und haben jetzt ihre eigenen Wohnungen. Dafür leben viele, mit denen die Raus im Laufe der Jahre zu tun hatten, ganz in der Nähe, Klaus Bölling gleich um die Ecke, Bela Anda auch.

Auf 53 Jahre Politik kann Johannes Rau an seinem 75. Geburtstag zurückblicken: 46 Jahre davon war er in Ämtern, die das Land und die Sozialdemokratische Partei Deutschlands geprägt haben. Als er mit 22 in die Politik ging, hieß der Bundeskanzler noch Konrad Adenauer. Jetzt kann man mit ihm über Angela Merkel und die große Koalition diskutieren, deren bisherige Erfolge ihn keinesfalls überraschen.

Wer das Wahlkampf- und Lebensmotto des Johannes Rau "Versöhnen statt spalten" als Aufforderung zum Überdecken von Konflikten missverstand, hat nie richtig hingehört. Gemeint war und ist Haltung, politischer Anstand, und die von Willy Brandt übernommene Überzeugung, dass Politik sich zum Teufel scheren soll, wenn sie das Leben der Menschen nicht menschlicher macht.

Fortschritt und Barbarei

Raus Amtszeit als Bundespräsident begann damit, dass er den Deutschen Bundestag an die vom Grundgesetz festgeschriebene Sozialbindung des Eigentums erinnerte, was damals noch keinesfalls wieder so en vogue war, wie gerade jetzt wieder. In seinen zunächst viel zu wenig beachteten Reden sagte er Sätze wie: "Fortschritt und Barbarei schließen sich nicht aus." Oder: "Eine Gesellschaft, die alle Lebensbeziehungen den Gesetzen des Marktes unterwirft, trägt Anzeichen von totalitärer Ideologie, die lebensgefährlich ist für den Staat."

Am 16. Februar 2000 hielt er als erstes deutsches Staatsoberhaupt eine Rede im israelischen Parlament. Und weil er angekündigt hatte, deutsch sprechen zu wollen, war ein Drittel der Knesset-Abgeordneten ostentativ weggeblieben. Sie kehrten zurück, nach Raus ersten drei Sätzen, die in die Foyers und Abgeordnetenbüros hinein übertragen worden waren. Am Ende sind alle zum Applaus von ihren Stühlen aufgestanden.

Bald befreite sich Johannes Rau dann auch im eigenen Land aus dem desinteressierten Vorurteil der öffentlichen und vor allem der veröffentlichten Meinung gegenüber einem, der schon 20 Jahre lang Ministerpräsident in NRW gewesen war. Seine Rede zur Integration beschleunigte die Überlegungen in allen Parteien zu einem Einwanderungsgesetz. Das Gesetz selber aber hat Rau wegen seines unwürdigen Zustandekommens im Bundesrat dann zwar unterschrieben, er sprach aber zugleich die Empfehlung aus, das Bundesverfassungsgericht solle dessen Zustandekommen überprüfen.

Raus Reden zur Gentechnik und auch seine Kritik an den Eliten des Landes, seine Warnung davor, den Staat bloß noch als "Agentur zur Stärkung des Wirtschaftsstandortes" zu sehen, seine Unbeirrtheit, mit der er so scheinbar angestaubte Begriffe wie "Barmherzigkeit" in den flott-neoliberalen Reform-Diskurs einspeiste, führten dazu, dass 82 Prozent der Menschen sich schließlich wünschten, Rau würde weiter machen und in eine zweite Amtsperiode gehen.

Nach dem Ende seiner Präsidentenzeit und vor dem Start in eine neue Lebensphase wollte Rau dann eine Auszeit nehmen, Abstand gewinnen, aufarbeiten, schreiben und über zukünftige Schwerpunkte nachdenken. Er wollte nicht "aus dem Amt in die gleiche Tätigkeit ohne Amt gehen".

Bei der Untersuchung, die zum Auftakt dieser Auszeit eine Kur vorbereiten sollte, stellten die Ärzte an seinem Herzen die gefährliche Verengung der Mitralklappe fest. In einer schweren Operation wurde eine künstliche Herzklappe eingesetzt. Dann gab es Komplikationen, Herzrhythmusstörungen, innere Blutungen. In zwei schnell aufeinander folgenden Notoperationen mussten Hämatome im Bauchraum entfernt werden. Davon erholt man sich nicht so schnell wieder.

Sehr viel lieber als über seinen Gesundheitszustand spricht Johannes Rau über Politik. Am Abend der Bundestagswahl hatte er befürchtet, es würde für die SPD noch schlimmer kommen. Dass es dann nicht ganz so schlimm geworden ist, verdanke die SPD Gerhard Schröder. Das sagt er mit einer Stimme, die das Vergesst-das-mal-bloß-Nicht deutlich mitliefert. Die große Koalition findet er vernünftig, es gab ja gar keine andere Möglichkeit, mitregieren zu können. Von Angela Merkel spricht er mit Respekt. War es denn überhaupt richtig, dass Schröder am Abend der NRW-Wahl hingeworfen hat? Rau möchte das nicht zensieren.

Der Machtverlust für die SPD in seinem Nordrhein-Westfalen, das er einmal mit absoluter Mehrheit regiert hat, ist für ihn bitter genug. Er erzählt, dass Gerhard Schröder immer wieder bei ihm gewesen sei. Die beiden haben oft und lange über den Zustand von Partei und Fraktion beraten, und auch über Neuwahlen. Rau war wie Schröder für Neuwahlen, nur nicht in dieser Form, nicht mit einer Ankündigung am Wahlabend.

Vize von sechs Parteichefs

Und die Partei? Hat Matthias Platzeck genug Ehrgeiz? Da lächelt Johannes Rau, er kennt Platzeck schon sehr lange: "Er hatte möglicherweise nicht den unbedingten Ehrgeiz, es zu werden, um so größer ist sein Ehrgeiz, es jetzt gut zu machen. Er macht bisher einen glänzenden Eindruck."

Platzeck solle sich jetzt von niemandem einreden lassen, dass man nicht ein guter Ministerpräsident und zugleich ein guter Parteivorsitzender sein könne. Johannes Rau war im Laufe der Zeit der Stellvertreter von sechs SPD-Parteivorsitzenden. Seit einiger Zeit schon mahnt er, dass die notwendige programmatische Erneuerung der SPD "nur mit einer Partei gelingen kann, die vital und lebendig ist und einen guten Blutdruck hat". Platzeck müsse jetzt bei den Menschen sein, rät er. Er müsse die Partei besuchen, denn die sei jetzt wirklich erschöpft.

Man verlässt diesen Mann, den Erhard Eppler einmal als "Genie der Menschlichkeit" bezeichnet hat, mit dem sehr starken Wunsch, dass er gesund werden und bald das neue Leben nach dem Amt genießen kann.

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Quelle:
SZ vom 14.01.2006
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