Populismus:Weshalb Demokratien heute besonders wachsam sein müssen

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Pegida-Demonstranten suchen sich seit Jahren die Parole "Wir sind das Volk!" der Widerstandsbewegung in der DDR anzueignen. (Foto: dpa)

In den Protestbewegungen der Gegenwart können erstmals die Stimmen der Verlierer deutlicher gehört werden. Doch nicht alle von ihnen unterstützen die Demokratie bedingungslos.

Gastbeitrag von Jan W. van Deth

Die Demokratie ist in Gefahr. Immer mehr Bürgerinnen und Bürger begeistern sich für autoritäre Ideen und Denkweisen. Politiker, die solche Ansichten hegen, sind in Ungarn, Frankreich, der Türkei, Deutschland, den Niederlanden, den Vereinigten Staaten und in vielen anderen Ländern auf dem Vormarsch. Sie bezeichnen sich selbst als Repräsentanten des "Volkes" und formulieren Forderungen, die sonst angeblich vom "Establishment", also einer Minderheit, "unterdrückt" würden.

Offensichtlich gelingt es Populisten, die Demokratie mit demokratischen Mitteln zu gefährden. Das wirft die Frage auf: Wenn Bürger autoritäre Ideen bevorzugen, sollte eine Demokratie diesen Forderungen dann nicht entsprechen?

Demokratie ist nicht gleich Mehrheitsentscheid

Wer die Frage positiv beantwortet, der setzt Demokratie und Mehrheitsentscheid gleich - eine verbreitete, aber höchst problematische Vereinfachung. Allein in Gesellschaften ohne permanente Spaltungslinien wäre diese Gleichsetzung unkompliziert.

Mehrheitsentscheidungen sind nur dann sinnvoll, wenn die Chancen, einmal zur Mehrheit zu gehören, innerhalb der Gesellschaft mehr oder weniger gleich verteilt sind. Aber das sind sie nicht. Sieben Jahrzehnte empirische Partizipationsforschung zeigen, dass in politischen Beteiligungsprozessen immer wieder die weniger Privilegierten unterrepräsentiert sind.

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Jede Welle der erweiterten politischen Teihabe- seien es die Proteste der 1960er- und 1970er-Jahre, die sozialen Bewegungen der 1980er-Jahre, Freiwilligenarbeit in den 1990ern, oder Internet-Aktivismus in den 2000ern - wurde stets vom Anspruch begleitet, diese Ungleichheit zu beseitigen. Keine der Wellen hat dies erreicht. Nach wie vor bleibt die Beteiligung in den unteren sozioökonomischen Bevölkerungsgruppen niedrig, und noch immer engagieren sich Männer stärker als Frauen.

Deprimierende Ergebnisse der Partizipationsforschung

Vor allem junge Menschen meiden institutionalisierte Beteiligungsformen in Wahlkampagnen oder Parteien. Nicht einmal die Verbreitung von Social Media hat diese kontinuierliche Verzerrung des demokratischen Ideals der gleichen Stimme gemildert. Diejenigen, die am meisten von politischer Partizipation profitieren könnten, sind am wenigsten aktiv - dauerhafte Verlierer mögen keine Demokratie.

Für jeden Demokraten sind die Ergebnisse der Partizipationsforschung deprimierend. Keinem Programm oder Projekt ist es bis heute gelungen, politisch passive Bevölkerungsgruppen effektiv zu mobilisieren. Vor mehr als zwanzig Jahren haben der amerikanische Politologe Sidney Verba und seine Kollegen die drei Hauptgründe zusammengefasst: Menschen sind politisch nicht aktiv, "weil sie es nicht können, weil sie es nicht wollen, oder weil niemand sie gefragt hat".

Vieles hat sich geändert, aber nicht die Relevanz dieser drei Gründe. Allerdings gibt es Anzeichen für einen politischen Klimawandel. Während zunehmende Unzufriedenheit mit den Ursachen und Folgen sozialer Härte- Finanzkrise, Sparpolitik, Globalisierung, Migration- Sidney Verbas zweitem Grund entgegenwirken, kümmern sich Populisten um den dritten.

Erstmals seitdem Demokratien Massenbeteiligung fördern, können nun die Stimmen der Verlierer deutlicher gehört werden. Nicht alle diese Stimmen unterstützen die Demokratie bedingungslos. Das ist bedauerlich, kann aber nur eine Überraschung sein für jene, die mit der überdurchschnittlichen Beteiligung ohnehin privilegierter Bevölkerungsgruppen zufrieden sind.

Manches deutet darauf hin, dass wir dem Ende einer langen Periode der verzerrten demokratischen Partizipation nahe sind. Wie auch der Aufstieg der AfD zeigt, können Bürgerinnen und Bürger, die bis vor Kurzem politisch nicht aktiv waren, mobilisiert werden. Modische Lesarten dieser Entwicklung klammern allerdings gerne aus, dass es auch andere Entwicklungen gibt.

Erstens haben selbst in etablierten Demokratien nicht unerhebliche Teile der Bevölkerung immer schon autoritäre Ideen unterstützt. Die empirische Politikwissenschaft hat dieses Phänomen bereits in den 1950er-Jahren untersucht. Der heutige Populismus überschneidet sich weitgehend mit diesem antiquierten Autoritarismus - und viele Demokratien waren bis heute sehr wohl in der Lage, mit solchen Gefährdungen umzugehen. Somit ist es nicht das Vorhandensein dieser Ideen, sondern vielmehr ihre Wiederbelebung, die uns beschäftigen sollte.

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Beteiligung ist nicht per se begrüßenswert

Zweitens ist demokratische Partizipation keineswegs auf dem Rückzug, sondern zunehmend populär, vor allem unter den "kritischen" Bürgerinnen und Bürgern. Das Repertoire politischer Partizipation ist mittlerweile nahezu unbegrenzt und umfasst Aktionen, die von der Wahlbeteiligung über Blogging bis hin zum Kauf fairer Produkte reichen.

Gibt es also nichts Neues unter der Sonne? Können Demokraten ruhig schlafen gehen? Die populistische Abhilfe für die größte Schwäche der Demokratie - ihre Unfähigkeit, permanente Verlierer einzubringen - ist im Prinzip ein Grund zur Freude. Die oft fremdenfeindliche, intolerante, rassistische und ignorante Natur populistischer Strömungen kann jedoch nicht einfach ignoriert werden.

Dies bringt uns zurück zu der unseligen Gleichsetzung von Demokratie und Mehrheitsentscheid. Unter einer Herrschaft der Mehrheit ist es für dauerhafte Verlierer dumm, für die Demokratie zu plädieren. Für Verteidiger der Demokratie ist es jedoch noch dümmer, die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern zu begrüßen, nur weil es sich dabei um beharrliche, politisch-passive Verlierer handelt.

Demokratie - verstanden als ein Wert an und für sich - ist offen sowohl für Gewinner als auch für Verlierer. Sie sollte allerdings nicht zugänglich sein für solche Gruppen, die sich des Mehrheitsentscheids nur bedienen, um damit viel wichtigeren demokratischen Prinzipien wie Toleranz, Respekt und Kompromissbereitschaft Schaden zuzufügen. Wer solche Prinzipien nicht unterstützt, ist von demokratischen Beteiligungsprozessen auszuschließen - selbst wenn die Betreffenden, wie das Bundesverfassungsgericht in Sachen NPD urteilte, keine Chance haben, ihre "verfassungsfeindlichen Ziele erfolgreich zu verfolgen".

Demokratie verlangt nicht, dass jemand die Chance bekommt, erfolgreich die Demokratie abzuschaffen, sie verlangt vielmehr den Schutz der Menschenrechte. Gruppen wie die NPD, der "Dritte Weg", manche Antifa-Initiative und zumindest Teile der AfD sind mit den Mitteln des Polizei- und Strafrechts einzudämmen und nicht erst an der Wahlurne. Wer auf Wahlen wartet und auf Mehrheiten hofft, kann der populistischen Falle nicht mehr entgehen.

Jan W. van Deth, 66, lehrte Politikwissenschaft an der Universität Mannheim und ist Projektleiter am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung.

© SZ vom 01.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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